Anti-Regierungsproteste in Ungarn: Aufbruchstimmung in Budapest
Erstmals kommen Vorwürfe gegen das System Orbán direkt aus dessen Machtzirkel. Hoffnungsträger Péter Magyar will mit der Korruption aufräumen.
Der Grund ist vor allem ein Mann: Péter Magyar. Der frühere Anwalt hat selbst jahrelang für Orbáns Fidesz-Partei gearbeitet und gilt als absoluter Insider. Nun hat er mit seiner früheren Partei öffentlich gebrochen und will seine eigene Liste gründen. Der Zeitpunkt ist brisant: In drei Monaten findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt, in Ungarn werden auch noch zeitgleich Kommunalwahlen abgehalten.
Experten schreiben Magyar großes Potenzial zu. „Ein Insider, der aus dem Schatten springt und als neuer Oppositionsführer auftritt – das ist absolut präzedenzlos in den letzten Jahren“, sagt Róbert László, Politikexperte beim Thinktank „Political Capital“. Magyar sage nicht viel Neues, aber er sei glaubwürdiger als die bestehende Opposition, die viele Menschen enttäuscht habe.
Wer ist der Mann? Magyar, 1981 in Budapest geboren, studierte Jura und arbeitete zunächst als Rechtsanwalt. Ab 2010 lebte er mit seiner Frau Judit Varga, später Justizministerin unter Orbán, in Brüssel. Magyar arbeitete als Mitarbeiter des ungarischen Außenministeriums, später als Diplomat bei der Ständigen Vertretung Ungarns bei der EU. Ab 2015 war er direkt in Orbáns Ministerbüro als eine Art Chefdiplomat tätig, bevor er ab 2018 die Ungarische Entwicklungsbank leitete.
Brisante Informationen
Zudem war er bis vor einem Jahr mit Varga, von 2019 bis 2023 Fidesz-Justizministerin, verheiratet. Auch von ihr erhielt Magyar brisante politische Insiderinfos: Auf einem nun von ihm veröffentlichten Mitschnitt spricht seine Ex-Frau davon, wie die Regierung bei Entscheidungen der Justiz intervenierte. Varga erklärt, wie Orbáns Kabinettsminister bei der Staatsanwaltschaft unliebsame Ergebnisse aus einer Ermittlungsakte streichen ließ. Korruption ist in Orbáns Ungarn alles andere als neu, aber selten war sie so greifbar.
Dazu kommt der Unmut über den im Februar bekannt gewordenen Amnestiefall: Die ungarische Präsidentin Katalin Novák hatte 2023 den Mitwisser eines schweren Kindesmissbrauchsfalls in einem Waisenhaus nahe Budapest begnadigt. Laut Gerichtsurteil hatte der Vizedirektor des Hauses jahrelang die pädophilen Straftaten seines Chefs gedeckt und Missbrauchsopfer zu Falschaussagen genötigt. Die Amnestie erfolgte in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu einem Besuch des Papsts in eben jenem Waisenhaus.
Der Fall war besonders pikant, da sich die regierende Fidesz-Partei seit Jahren den Kinderschutz auf die Fahnen schreibt. So hatte sie 2021 homosexuelle Inhalte für Medien, die Minderjährigen zugänglich sind, unter Strafe gestellt. Die weitgehend Orbán-loyale Novák entschuldigte sich infolge mehrerer Großproteste für die Amnestie und trat vom Präsidentenamt zurück – genauso wie Varga, die als Justizministerium die Begnadigung gegengezeichnet hatte.
Die Regierung sei „korrupt wie die Mafia“, sagt Magyar seitdem immer wieder. Es sei unmöglich, das System von innen zu kritisieren, sagte er in einem Interview mit 24.hu. „Entweder Sie bekommen keine Antwort, oder werden ausgelacht, oder Ihr Umfeld betrachtet Sie als Verräter.“
Eigene Partei
Längst sei Machterhalt das Hauptziel Orbáns, das er mit staatlichen Finanzmitteln, Propaganda und „ständiger Panikmache und Feindbildern“ erreichen wolle, sagte Magyar. Bereits im Februar sah er den „Bedarf einer neuen Kraft, die frei von aufgezwungenen Ideologien ist.“ Nun macht er offenbar ernst, jüngste kündigte er an, eine eigene Partei zu gründen und bei der EU-Wahl anzutreten. Er wolle sich „in der Mitte“ positionieren und nannte Reformen des überlasteten Schul- sowie des Gesundheitssystems als wichtige Ziele.
Sein Hauptthema dürfte aber die Bekämpfung von Korruption bleiben. Unter Orbán stürzte Ungarn im Korruptions-Index von Transparency International von 55 (2012) auf 42 (2023) Punkte ab. „Die Missstände in Ungarn sind vielfach bekannt. Dass die Vorwürfe nun aber von innerhalb des Regimes stammen, das ist neu“, sagt József Péter Martin, Direktor von Transparency International Ungarn. Das ungarische Rechtssystem sei zwar fest in den Händen der Regierung. Magyar könnte aber die politische Landschaft verändern und die Augen mancher Fidesz-Wähler öffnen, sagt Martin. Auch könnte sich die jahrelange Apathie der ungarischen Bevölkerung in eine aktivere Haltung wandeln.
Magyar verstehe die sozialen Medien geschickt zu bespielen und dadurch im Spiel zu bleiben, sagt Politikexperte László. Dadurch werde er kein Problem haben, rechtzeitig die nötigen 20.000 Unterschriften für eine Kandidatur bei der EU-Wahl zu sammeln. Größeres Mobilisierungspotential sieht auch Andrea Pető, Politologin an der CEU Wien. „So lange Magyar allein auf der Bühne steht, ist er anfällig für Angriffe auf seine Integrität. Entscheidend wird sein, wer sich ihm von der Fidesz anschließt.“
Es bleibt spannend, zumal Magyar wohl noch die eine oder andere politische Bombe im Köcher hat. Für 6. April hat er wieder zu einem Großprotest in Budapest aufgerufen.
Anm.d.Red.: Das Zitat von József Péter Martin wurde aus Übersetzungsgründen nachträglich geringfügig geändert. 29.03.2024
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