Gespräche über Ost und West: Trinken und reden

Der Buchtitel ist Programm. Die Ost-Autorinnen Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann betrinken sich und gründen den idealen Staat.

Drei Frauen blicken ziemlich fröhlich in die Kamera

Freie Entfaltung für alle: Peggy Mädler, Annett Gröschner, Wenke Seemann (v. l.) Foto: Andreas Rost

Der erste Teil dieses langen und irgendwie entwaffnenden Buchtitels ist ganz wörtlich zu nehmen. Tatsächlich geht es in diesem Gesprächsband nicht zuletzt darum, dass drei ostdeutsche Frauen sich betrinken.

Siebenmal treffen sich die Schriftstellerinnen Annett Gröschner und Peggy Mädler sowie die Künstlerin Wenke Seemann und nehmen alkoholische Getränke zu sich – beim ersten Treffen Bier und Rotkäppchen-Sekt, ein anderes Mal Wodka, dann auch Bowle und beim letzten Treffen Gin-Tonic –, und dabei unterhalten sie sich. Das Buch besteht aus den bearbeiteten und mit ergänzenden Fußnoten sowie erläuternden Übergangstexten versehenen Gesprächen.

Eine Schnapsidee? Sagen wir es so: Dieses Buch ist auch eine Lockerungsübung. Der Ansatz war offenbar, den gegenwärtig eher mit Kollektividentitäten geführten Ost-West-Diskursen – von einer „Oschmann-Hoyer-Welle“ ist explizit die Rede – die Souveränität von handfesten, individuellen Frauenleben entgegenzuhalten. Ein Selbstverständigungsdiskurs also, mit allen tastenden Bewegungen, die damit verbunden sind.

So sendet die zweite Hälfte des Titels denn auch Ironiesignale. Gegründet wird hier nämlich gar nichts. Was die Gespräche stattdessen anbieten, sind Erinnerungen und Anekdoten, kleine und größere Bekenntnisse und sowohl zielführende als auch abschweifende Gedanken, ein seitliches Vorübergehen am eigenen Leben samt zugehörigen Selbstreflexionen. Dabei darf es streckenweise durchaus beschwipst und albern zugehen, doch auf relevante Punkte der Gegenwartsdiskurse kommen die drei Autorinnen immer wieder zurück.

Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann: „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“. Hanser, München 2024, 320 Seiten, 22 Euro

Mit Klischees über die Ostfrau läuft sich das erste Gespräch warm. Die drei Autorinnen zählen einige auf: Ostfrauen lassen ihre Kinder weinen, haben ein unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität, außerdem unrasierte Beine usw. Bert Papenfuß, der Undergrounddichter vom Prenzlauer Berg, und sein Gedicht „Die Ostfrau an sich“ – „sind fidele Häuser, mit denen man Pferde stehlen kann“ – kommen dabei nicht gut weg.

Erst die Norm, plötzlich „anders“

Dass sich die Autorinnen nicht über dazu noch mit dem männlichen Blick gesehene Klischees verstehen wollen, ist nicht überraschend. Wie aber dann? Dass es in puncto Selbstverständnis ein Problem gibt, macht Wenke Seemann früh im Buch klar: „Ostdeutsche sind mit einer starken Normierung aufgewachsen. Und dann waren sie plötzlich nicht mehr die Norm. Sondern anders.“

Dieses Zitat könnte noch ungefähr auf einer Linie mit Dirk Oschmanns These gesehen werden, nach der die ostdeutsche Identität als Abweichung eine westdeutsche Erfindung ist. Zugleich bietet es eine Erklärung dafür an, warum sich Ostdeutsche diese westdeutsche Erfindung so sehr zu eigen machen: Das Selbstverständnis mit einer normierten Identität ist weiterhin virulent.

Es dauert einige Dutzend Seiten, bevor explizit wird, was die drei Autorinnen dem entgegenhalten. In einem der kurzen Erläuterungstexte heißt es: „Wir sprechen lieber von ostdeutschen Erfahrungen als von einer ostdeutschen Identität, denn Letzteres klingt gleich wieder so fest und nicht mehr nach einem fluiden, sich ständig verändernden Konstrukt, das uns übergestülpt wird und das wir herbeireden, das wir aus Erinnerungen und Prägungen immer wieder zusammensetzen.“

Die Identität als Konstrukt, gleichzeitig fluide und, wenn man nicht aufpasst, allzu massiv, dabei so veränderlich wie übergestülpt, sie wird hier herbeigeredet und aufgebrochen zugleich, indem diese drei Frauen sich selbstverständlich Raum nehmen, um ostdeutsche Erfahrungen einzubringen.

Wie tickt der Osten?

Das liest sich gut und locker, manchmal hübsch selbstironisch und oft auch sehr klug und ist ein ganz eigener Beitrag zur Gegenwartsanalyse. Spreewaldgurken und Wutbürger-Ost, Transformationserfahrungen und DDR-Sozialisation, Feminismusgeschichte und AfD-Hoch, Erinnerungen an Begriffe wie Dialektik und Völkerfreundschaft sowie deren erst mal gut klingende Theorie und allerdings missliche Praxis in der DDR, das alles kommt dabei zur Sprache.

Wie tickt der Osten? Diese Frage, die gerade in diesem Jahr mit ihren einschneidenden Landtagswahlen in gleich drei ostdeutschen Bundesländern, bei denen die AfD erschreckend gut abschneiden könnte, einige Dringlichkeit mit sich bringt, wird hier keineswegs abschließend beantwortet, wie auch! Ein Plädoyer dafür, beim Nachdenken über diese Frage immer auch die eigenen Wahrnehmungsfilter zu überdenken, ist das Buch insgesamt.

Dass das leicht ist, behaupten die drei Autorinnen keineswegs. An einer Stelle attestiert Annett Gröschner ihrer Generation die Anfälligkeit für eine, so ihr Begriff, „Verbitterungsstörung“. Sich von ihr nicht vom differenzierenden Hinsehen ablenken zu lassen, ist auch eines der Anliegen dieses Buchs.

Daraus ergibt sich die Frage: „Wie überwinden wir unsere Kränkung und werden stattdessen produktiv?“ Im Umfeld zum gegenwärtigen Wählerzustrom zur AfD, die sie selbstverständlich ablehnen, fragen sich die drei Autorinnen auch: „Wie sieht ein solidarischer Umgang mit Ängsten vor dem Abstieg aus, der ja tatsächlich passieren kann?“ Eine abschließende Lösung haben auch sie nicht.

Immerhin gibt es Fortschritte

Immerhin können sie neben der Schwerkraft der Verhältnisse auch Fortschritte wahrnehmen. Die Ausdifferenzierung von Sprecherpositionen über ostdeutsche Erfahrungen, die sich etwa in den vielfältigen Romanen zum Thema zeigt, die in den vergangenen Jahren veröffentlicht wurden, werten die drei Autorinnen als positives Zeichen. Manja Präkels, Clemens Meyer, Lukas Rietzschel, Olivia Wenzel, Daniel Schulz und so weiter – eine Fußnote zählt einschlägige Au­to­r*in­nen­na­men auf. Auf dieser literarischen Spur ist noch interessant, dass Christa Wolf in diesen Gesprächen sehr gut wegkommt. Ihr Klassiker „Nachdenken über Christa T.“ steht für die – vom DDR-Apparat selbst in die Tonne getretene – Möglichkeit einer offeneren ostdeutschen Gesellschaft.

Bei alledem kommt keineswegs eine Verklärung der DDR auf. Wie eng und repressiv die Realität der DDR war und dass sie auch den sozialistischen Grundideen widersprach, macht eine Stelle in der Gesprächen schlagend deutlich. Sie erinnert an den Satz aus dem „Kommunistischen Manifest“, nach dem „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Diese freie Entwicklung „eines jeden“ war in den Kollektivträumen der DDR nicht möglich.

Aber es geht hier keineswegs nur um ostdeutsche Erfahrungen. Ganz nebenbei ist es auch ein Porträt eines gegenwärtigen gesamtdeutschen Alltags im Zeichen der Multikrisen vom Klimawandel bis hin zum russischen Überfall auf die Ukraine.

In diesem Porträt in Gesprächsform sind die Herausforderungen der Gegenwart ebenso eingetragen wie die utopischen Splitter, die man wahrnehmen kann – öffentliche Schwimmbäder und Bibliotheken etwa oder ein freierer Umgang mit den eigenen Gefühlen bei jüngeren Jahrgängen. Und der Trost kleiner Fluchten, etwa in die Datschen im Oderbruch, wird auch erwähnt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.