: Uralte Geheimnisse im Tomographen
Viele Tontafeln aus Mesopotamien sind hinter Schutzhüllen verborgen. Was auf ihnen steht, war bisher unbekannt. Um sie zu lesen, haben Wissenschaftler*innen des Exzellenzclusters „Understanding Written Artefacts“ und des Desy ein mobiles Röntgengerät entwickelt. Nun war er erstmals unterwegs: im Pariser Louvre
Von Robert Matthies
Mit neuester Technik können sie nun überall auf der Welt die ältesten verborgenen Schriften lesen: Wissenschaftler*innen des Exzellenzclusters „Understanding Written Artefacts“ (UWA) an der Universität Hamburg und des Deutschen Elektronen-Synchrotrons (Desy) in Hamburg haben einen Computertomographen entwickelt, mit dessen Hilfe sich über 4.000 Jahre alte verborgene Keilschrifttafeln aus Mesopotamien entschlüsseln lassen. Mesopotamien oder das Zweistromland ist eine Kulturlandschaft in Vorderasien, die durch die Flüsse Euphrat und Tigris geprägt wird. Heute liegen dort Irak und Syrien.
Was auf vielen dieser Tontafeln steht, ist bis heute ein Geheimnis, denn diese Tafeln stecken unter einer Schutzhülle aus Ton, um sie den Augen Unbefugter zu entziehen, aber auch, um die Tafeln einst auf beschwerlichen Reisen durch Wüsten und Gebirge zu schützen. Diese Tonumschläge können Wissenschaftler*innen nicht öffnen, denn die kostbaren Artefakte müssten dafür zerstört werden.
Das in Hamburg entwickelte Verfahren namens ENCI („Extracting non-destructively cuneiform inscriptions“, also „Keilschriftinschriften zerstörungsfrei extrahieren“) ist weltweit einmalig. Das Gerät ist mobil und überall dort einsetzbar, wo solche Keilschriften lagern, in Museen und Archiven auf der ganzen Welt. Die verschicken ihre Sammlungen für solche Untersuchungen nur selten, weil der Aufwand hoch ist und die Objekte beschädigt werden könnten. Das ENCI-Gerät zu diesen Sammlungen zu transportieren, ist einfacher: Nicht mal 400 Kilogramm wiegt es. Die kleinsten stationären Computertomographen wiegen 2,3 Tonnen, der größte über 25 Tonnen.
In dem neuen Verfahren erfassen Röntgenstrahlen sowohl die Hülle als auch die darin liegende Keilschrifttafel in vielen verschiedenen Schichten. Am Computerbildschirm lassen sich anschließend auf den einzelnen Röntgenaufnahmen Zwischenräume zwischen Tafel und „Umschlag“ erkennen. Die Wissenschaftler*innen fügen diese CT-Scans zusammen und können so die Keilschrifttafel und die Schriftzeichen darauf sehen und lesen.
In der vergangenen Woche waren das Gerät und Forscher*innen von UWA und Desy erstmals unterwegs, für detaillierte Untersuchungen an Tontafeln im Pariser Louvre. Rund 12.000 Tafeln liegen dort, es ist eine der größten Sammlungen der Welt. Zwölf Exemplare aus der Stadt Ur haben die Wissenschaftler*innen für eine genauere Betrachtung ausgewählt. Ur ist eine der ältesten sumerischen Stadtgründungen und war in Mesopotamien ein wichtiges Zentrum.
Die Pariser Assyriologin Cécile Michel leitet das Projekt gemeinsam mit Stephan Olbrich, dem Direktor des Regionalen Rechenzentrums der Uni Hamburg, und dem Röntgen-Nanowissenschaftler und -Optiker Christian G. Schroer vom Desy. Michel erforscht die assyrische Kultur und erhofft sich von den Aufnahmen in Paris Einblicke in das Alltagsleben und die Lebensumstände der Menschen damals. Denn Keilschriftbriefe schrieben sich Menschen seit etwa 3.500 v. Chr. Darin berichten sie über Könige, das Handwerk und den Handel, erzählen aber auch von ganz privaten Dingen.
Michel ist Professorin am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris und Mitglied im Exzellenzcluster UWA, in dem rund 150 Wissenschaftler*innen aus über 40 verschiedenen Fächern miteinander Schriftartefakte aus allen Kulturen und Epochen von Keilschrifttafeln bis zu Graffiti untersuchen.
Für das ENCI wird es in den kommenden Jahren genug Arbeit geben. Weltweit sind etwa eine Million Keilschrifttafeln erhalten geblieben. Viele dieser Tafeln haben ihre Empfänger nicht erreicht und sind bis heute ungeöffnet.
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