Verkehrssenatorin auf der Anklagebank

Was tun gegen den langsamen Ausbau der Radinfrastruktur? Der Verein Changig Cities erprobt eine neue Taktik: einfach mal die Senatsverwaltung verklagen

Hier wurde schon was gemacht: Berlin, Schönhauser Allee   Foto: Paul Zinken/picture alliance

Von Claudius Prößer

Sechs Jahre Mobilitätsgesetz – aber beim Ausbau der Radinfrastruktur kommt nichts voran? Weil der Verein Changig Cities bei seiner jüngsten Bilanz zu genau diesem Schluss gekommen ist, wollen die AktivistInnen jetzt andere Saiten aufziehen. Von ihnen koordiniert und vertreten durch einen Anwalt haben mehrere radfahrende BerlinerInnen förmliche Anträge an die Verkehrsverwaltung gestellt: Fünf Abschnitte von Hauptverkehrsstraßen sollen mit geschützten Radstreifen ausgestattet werden. Weist das Haus von Senatorin Manja Schreiner (CDU) das ab, soll vor dem Verwaltungsgericht geklagt werden.

„Uns ist der Geduldsfaden gerissen“, teilt Changing Cities mit. Nicht einmal 5 Prozent des vorgesehenen Radnetzes seien fertig. Weil das Fehlen sicherer Infrastruktur dort besonders ins Gewicht fällt, wo der Verkehr sehr gefährlich ist, wurden für den Vorstoß fünf Unfallschwerpunkte ausgewählt: Abschnitte der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg, der Neuköllner Hermannstraße, der Lichtenberger Treskowallee, der Kaiser-Friedrich-Straße in Charlottenburg und der Leipziger Straße in Mitte.

„Wenn die Politik nicht in der Lage ist, uns Bür­ge­r*in­nen im Verkehr zu schützen, müssen wir reagieren“, findet Changing-Cities-Vorstandsmitglied Paul Jäde. „Der Ball liegt jetzt bei Frau Schreiner.“ Deren MitarbeiterInnen fanden am Donnerstag im Posteingang fünf Schreiben der Lichtenberger Kanzlei Leonhardt. Sie beantragen die „verkehrsrechtliche Anordnung auf Errichtung von geschützten Radfahrstreifen“ oder „hilfsweise eine vergleichbare verkehrsrechtliche Anordnung“, „um den Radverkehr an dieser Stelle ausreichend zu schützen“.

Diese knappe Forderung wird ausführlich begründet. Im Fall der Schönhauser Allee etwa führt Rechtsanwalt Antonio Leonhardt auf, dass der vorhandene bauliche Radweg nur 1,50 bis 1,60 Meter breit ist und den aktuell gültigen Mindestbreiten nicht genügt. Gleichzeitig komme es zu vielen Konflikten mit dem Fußverkehr. Die Benutzungspflicht des Alt-Radwegs ist auch aufgehoben, allerdings sei das Fahren auf der Fahrbahn bei werktäglich bis zu 22.000 Pkws und 5.600 Lkws für die 5.000 bis 10.000 Radfahrenden (die Zahl schwankt jahreszeitlich stark) sehr riskant.

Zwischen 2018 und 2022 habe es laut Unfallstatistik auf dem Abschnitt 37 verletzte Radfahrende gegeben, davon 2 schwer verletzte. Der Forderung der Pankower BVV, den rechten der drei vorhandenen Fahrstreifen dem Radverkehr zu widmen und dafür Stellplätze zu opfern, sei die Senatsverwaltung bislang nur auf einem rund 700 Meter langen Abschnitt weiter südlich nachgekommen – hier wird der mit Betonelementen geschützte Radstreifen gerade fertiggestellt.

Dessen „zeitnahe Fortführung“ sei aber „nach Aussagen der SenMKVU nicht wahrscheinlich“, argumentiert das Anwaltsschreiben und verweist auf Äußerungen der Senatorin, man werde jetzt immer „prüfen, ob es auch Sicherheit für Radfahrer gibt, ohne sich rigoros gegen Parkplätze zu entscheiden“. Das entspricht auch dem Dokument „Hinweise für die Planung von Radverkehrsanlagen“, das die Verkehrsverwaltung zur aktuellen Grundlage aller Planungen gemacht hat.

Vor diesem Hintergrund leitet der Anwalt den „Anspruch auf verkehrsrechtliches Einschreiten“ nicht vom Mobilitätsgesetz, sondern von §45 der Straßenverkehrsordnung (StVO) ab. Darin geht es um die Errichtung von Verkehrszeichen zur Erhöhung der Sicherheit – wozu auch markierte oder bauliche Radstreifen gehören. Es bestehe eine „konkrete Gefahr für die Individualrechtsgüter der Antragsstellenden“ – „ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie ihr Eigentumsrecht an dem Fahrrad“.

Können Einzelpersonen überhaupt solche Ansprüche geltend machen? „Ja“, sagt Changing Cities

Die entscheidende Frage lautet nun: Können Einzelpersonen überhaupt solche Ansprüche geltend machen? „Ja“, sagt Paul Jäde von Changing Cities: Man sei nach gründlicher Prüfung zum Schluss gekommen, dass aus der Gesetzeslage individuelle Rechte abgeleitet werden könnten. „Die StVO soll ja Sicherheit herstellen, also den Anspruch Einzelner auf körperliche Unversehrtheit schützen.“ Sprich: Es müsse unverzüglich gehandelt werden, gegebenenfalls mit vorläufigen Maßnahmen. Lehne die Senatsverwaltung das ab, gebe es die Möglichkeit zum Widerspruch. Führe auch der nicht zum Erfolg, könne man eine Klage einreichen, so Jäde.

In der Verwaltung hat man da Zweifel, auch wenn sich deren HausjuristInnen den Fall noch einmal ansehen dürften. „Dazu, ob einzelne Verkehrsteilnehmer einen Anspruch auf geschützte Radinfrastruktur haben, ist bisher keine Rechtsprechung bekannt“, sagte Sprecherin Britta Elm der taz. Dagegen spreche, „dass die Priorisierung der Anlage und die Ausgestaltung der Radwegeinfrastruktur in Umsetzung des Radverkehrsplans im Ermessen des Landes“ liege, so Elm, „und die Bestimmungen des Mobilitätsgesetzes oder der Straßenverkehrsordnung grundsätzlich im öffentlichen Interesse stehen“.

Ersteres zählt für Jäde jedenfalls nicht: Der Ermessensspielraum der Verwaltung, etwa indem sie auf Maßnahmen in der Zukunft verweise, sei angesichts der Gefahrenlagen „auf null reduziert“. Genau genommen habe die Politik ihr Ermessen schon durch die Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes ausgeübt – und das spreche eine eindeutige Sprache.