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Einer von 206.000

Die EU hat die Route vom Horn von Afrika nach Libyen blockieren lassen – vielen Flüchtlingen bleibt nur der Weg über das Rote Meer

Foto: Collage: Nontokozo Tshabalala

Aus Äthiopien Ange Illiza

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind 14 Jahre alt, leben als ältestes von fünf Geschwistern in einem kleinen Dorf im Osten Äthiopiens, dem einzigen Ort, den Sie je gekannt haben. Ihr Vater wurde vor einem Jahr bei dem Überfall einer Miliz auf ihr Dorf getötet, sie müssen die Familie versorgen. Sie brechen die Schule ab, um Vieh zu züchten, sind dankbar, dass sie trotzdem lesen und schreiben können. Und auch wenn ihre Familie heute nur ein paar Kühe hat, träumen sie von einem eigenen Geschäft in ihrem Viertel.

Und dann, an einem geschäftigen Morgen im Jahr 2022, zerstören Kämpfer der Oromia-Miliz alle Träume: Sie überfallen ihr Dorf, stehlen Vieh, plündern Geschäfte, töten ihre Angehörigen und Freunde. Sie wissen, dass die Miliz immer auf der Suche nach Jungen wie ihnen ist, um sie zu entführen und zu Soldaten zu machen. Das ist ihre größte Angst. Sie rennen davon und suchen nach der Person, die ihnen einst versprach, sie nach Saudi-Arabien zu bringen.

Dass ist die Geschichte von Musbahi Hassan. Er erzählt sie in einer Aufnahmeeinrichtung der UN-Migrationsagentur IOM in Jigjiga, nahe der äthiopisch-somalischen Grenze. Musbahi ist der jüngste von 17 Männern und Jungen, die dort untergebracht sind. Alle waren von Schmugglern im Wüstengebiet von Berbera, im Norden Somalilands, zurückgelassen worden. Ohne Nahrung, Wasser und Transportmittel starben viele ihrer Mitreisenden. Musbahi und die anderen kehrten um, zurück nach Äthiopien.

Musbahi ist laut UN-Zahlen einer von 206.000 Menschen, die 2022 versuchten, über die Wüste von Berbera, den Golf von Aden und den Jemen nach Saudi-Arabien zu gelangen. Der Weg vom Horn von Afrika nach Jemen ist heute einer der am stärksten frequentierten und gefährlichsten Migrationskorridore der Welt.

Musbahi erzählt, dass er an einem Abend mit einem Dutzend weiterer Mi­gran­t:in­nen einem Bus in der Grenzstadt Wajale bestieg. Sie wollten die Wüste von Berbera durchqueren, ein Boot über das Rote Meer nehmen und in vier Tagen den Jemen erreichen. 5.600 Birr (etwa 100 €) zahlte Musbahi den Schmugglern.

Doch Milizionäre halten ihren Bus an, durchsuchen die Passagiere und schicken sie zurück. Die Schmuggler überlassen sie sich selbst. Drei Tage ist die Gruppe zu Fuß unterwegs, ohne Wasser oder Essen. „Ich beschloss, zurückzukehren, nachdem ich drei meiner Gefährten in der Wüste begraben hatte“, sagt Musbahi. „Als ich ankam, verbrachte ich drei Tage im Krankenhaus.“

Seit zwei Monaten ist er nicht mehr zu seiner Familie zurückgekehrt; er will es auch nicht. Wie könnte er auch? Seine einzige Hoffnung auf ein besseres Leben besteht darin, weiter zu reisen. „Ich bin bereit, eine weitere Chance zu ergreifen und die Route erneut zu gehen“, sagt Musbahi.

Die Konflikte in den Regionen Tigray, Oromia und Somali haben Armut, Krieg, Epidemien verschärft. Für junge Menschen wie Musbahi bedeutet das Erreichen der Pubertät, dass sie entweder fliehen oder sich den Milizen anschließen müssen.

„Wir können die benötigte humanitäre Hilfe nicht leisten. Wir müssen ständig auf Notfälle reagieren“, sagt der WHO-Koordinator für Region Somalia. Richard Lang'at. Es herrscht Unterernährung, in den überfüllten Flüchtlingslagern der Region kämpft die WHO gegen Cholera und Malaria. So gebe es wenig Hoffnung, dass sich die Lage für die Menschen der Region bessern wird.

„Ich beschloss, zurückzukehren, nachdem ich drei meiner Gefährten in der Wüste begraben hatte“

Viele der Jugendlichen und Kinder, die sich auf den Weg Richtung Jemen begeben, wissen nichts vom dem Krieg dort, von den Gefahren für irrguläre Einwanderer. Immer wieder gibt es Berichte über tödliche Schüsse der jemenitische Armee auf Mi­gran­t:inne­n aus dem Golf von Aden.

Die 17-jährige Miriam Baati aus Äthiopien ist aus dem Jemen zurück gekehrt, nachdem sie erfahren hatten, dass in dem Land Krieg herrscht. Baati hatte Äthiopien in der Hoffnung verlassen, nach Europa zu gelangen. „Ich hatte keine Ahnung, dass im Jemen Krieg herrscht“, sagt sie. „Hätte ich das gewusst, hätte ich eine andere Route genommen.“ Die Reise Richtung Jemen sei „gefährlich, von Anfang an“, sagt Baati. „Ich hatte Glück, dass ich lebend zurückgekehrt bin. Ich werde nicht mehr zurückkehren.“

Menschen wie Musbahi und Baati finden einen Anlaufpunkt der IOM in der Stadt Tog-Wajalle, an der Grenze zwischen Äthiopien und Somalia. „Bevor ich hier im Zentrum zu arbeiten begann, hatte ich keine Ahnung, wie sehr Menschen leiden können“, sagt Yurub Abdulahi, ein Mitarbeiter des Zentrums. „Ich glaube, ich habe gesehen, wie den schwächsten Menschen das Schlimmste widerfahren ist. Ich habe gesehen, wie sexuell missbrauchte und vergewaltigte Kinder in den Händen ihrer Mütter starben. Sie leiden so sehr, und doch kehren so viele von ihnen immer wieder zurück“, sagt Abdulahi.

Aus Äthiopien Ange Illiza

Von 2021 bis 2022 verdoppelte sich die Zahl der Mi­gran­t:in­nen auf der Route. Daran ändert auch die strenge Abschiebepolitik Saudi-Arabien nichts. Auf Grundlage eines Rücknahmeabkommens mit der Regierung in Addis-Abbeba schob Saudi-Arabien allein im Juli 2021 rund 40.000 Mi­gran­t:in­nen innerhalb von zwei Wochen ab.

Die UN schätzt, dass Ende 2024 rund 23 Millionen Vertriebenen am Horn von Afrika leben werden. Lange führte die wichtigste Fluchtroute von hier über Sudan und Libyen. Doch ab 2015 machte die EU mittels des so genannten Khartoum-Prozesses, Sudan zum Partner der Migrationskontrolle. Sie schickte Ausrüstung und viele Millionen Euro nach Khartoum, bildete Truppen aus. Sudanesische Milizen stoppen seither Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. So wurde die Route über das Rote Meer wichtiger.

Ein klassisches Muster: „Wenn die Rückführungspolitik verschärft und die Routen geschlossen werden, weichen die Migranten auf weniger direkte und dafür riskantere Wege aus“, sagt Marie Walter-Franke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Kriminelle Schlepper machen ein tödliches Geschäft. Die Zahlen senke das gleichwohl nicht. „Die Vorstellung, dass die Migration kontrolliert werden kann, ist ein Hirngespinst“, sagt Walter-Franke.

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