piwik no script img

Politische Gefangene in der TürkeiErdoğans letzte große Hürde

Der Fall des inhaftierten Abgeordneten Can Atalay entwickelt sich zum politischen Machtkampf innerhalb des türkischen Justizsystems.

Izmir, 06.06.2023: Eine Frau demonstriert mit einem Plakat, auf dem ein Portrait von Can Atalay zu sehen ist Foto: Murat Kocabas/ZUMA Wire/imago

Istanbul taz | Ali Babacan, Vorsitzender der konservativen DEVA-Partei, nennt es einen massiven Angriff auf die Verfassung, auch der Vorsitzende der türkischen Anwaltskammer, Erinc Sagkan, ist alarmiert. Erneut hat am Mittwochabend ein Istanbuler Gericht ein Urteil des Verfassungsgerichts der Türkei missachtet und sich geweigert, den gewählten Abgeordneten der Türkischen Arbeiterpartei (TIP) Can Atalay, auf freien Fuß zu setzen.

Atalay wurde im April 2022, im Rahmen des Prozesses gegen die angeblichen Anstifter der sogenannten „Gezi-Proteste“, zu 18 Jahre Gefängnis verurteilt. Aus dem Gefängnis heraus kandidierte er für das Parlament und wurde im Mai dieses Jahres für den Bezirk Hatay gewählt. Nachdem das zuständige Gericht es abgelehnt hatte, ihn nach der Wahl auf freien Fuß zu setzen, damit er sein Mandat wahrnehmen kann, wandte Atalay sich mit einer Individualklage an das Verfassungsgericht.

Ende Oktober gab das Verfassungsgericht seinem Antrag statt. Er muss freigelassen werden. Doch Can Atalay sitzt bis heute in Silivri, dem Gefängnis westlich von Istanbul, dass extra für politische Häftlinge gebaut wurde. Denn statt der Anordnung des Verfassungsgerichts nachzukommen, hatte das zuständige Istanbuler Strafgericht den Fall völlig rechtswidrig an das oberste Berufungsgericht für Strafsachen, dem Kassationsgerichtshof weitergereicht (vergleichbar mit dem Bundesgerichtshof in Deutschland), der sich gegen die Freilassung von Atalay aussprach und dem Verfassungsgericht vorwarf, seine Kompetenzen überschritten zu haben. Vom Generalstaatsanwalt wurden die Richter des Verfassungsgerichts sogar wegen Rechtsbeugung angezeigt.

In den regierungsnahen Medien entlud sich eine Schmutzkampagne gegen die Verfassungsrichter, Präsident Recep Tayyip Erdoğan mischte sich persönlich ein und sagte, bedauerlicherweise würde das Verfassungsgericht ständig Fehler machen. Das System müsse durch eine neue Verfassung in Ordnung gebracht werden.

Harter Kampf um die Verfassung

Doch die Richter des Verfassungsgerichts ließen sich nicht einschüchtern. Sie nahmen sich den Fall Atalay erneut vor und entschieden am Mittwoch wie schon im Oktober für die sofortige Freilassung von Can Atalay. Daraufhin versammelte sich am Mittwochabend eine größere Menge von Freunden, politischen Anhängern Can Atalays und Vertretern anderer Oppositionsparteien vor dem Strafgericht in Istanbul, um nun endlich den Abgeordneten der TIP in Empfang nehmen zu können. Doch vergeblich. Die Richter der unteren Instanz weigerten sich erneut, dem Urteil des Verfassungsgerichts nachzukommen.

Damit wird das Rechtssystem in der Türkei endgültig zur Farce. Nachdem verschiedene Regierungen unter dem heutigen Präsidenten Erdoğan seit 2010 das Justizsystem systematisch in ihrem Sinne umgebaut haben, steht ihnen heute nur noch das Verfassungsgericht im Weg. Erdoğan trommelt seit seiner Wiederwahl im Mai dafür, dass die Türkei eine neue „freiheitliche“ Verfassung brauche, deren Ausarbeitung er vom Parlament fordert.

Die Opposition vermutet allerdings, dass Erdoğan durch eine neue Verfassung den säkularen Charakter der Türkei abschaffen und wie im Osmanischen Reich die Türkei wieder zu einem islamischen Staat machen will. Deshalb verweigert sie bislang jede Mitarbeit an Erdoğans neuer Verfassung und blockiert damit eine Befassung im Parlament.

Doch die ehemalige Sechs-Parteien-Koalition der Opposition hat sich bereits aufgelöst und Erdoğan versucht, kleinere Parteien auf seine Seite zu ziehen, um im Parlament eine verfassungsändernde Mehrheit zu erreichen. Dass sich diese Auseinandersetzung ausgerechnet an der Person von Can Atalay endzündet, ist auch kein Zufall: Atalay ist wie die anderen Gezi-Häftlinge für Erdoğan ein Aufrührer, der ihn angeblich gewaltsam stürzen wollte. Deshalb darf er auf keinen Fall freikommen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!