piwik no script img

Selenskyjs JahrespressekonferenzVage, aber nichts beschönigt

Kommentar von Barbara Oertel

Manches war befremdlich in Selenskyjs Jahrespressekonferenz. Die Lage ist angespannt. Die Hoffnung auf ein positives Signal aus Washington bleibt.

Selenskyj am Anschlag: Während seiner Jahresend-Pressekonferenz kanzelte der Präsident einige Jour­na­lis­t*in­nen barsch ab Foto: Evgeniy Maloletka/AP

W ie seine ermüdenden und traumatisierten Landsleute im bereits zweiten Kriegswinter zum Durchhalten motivieren, ohne dabei gleichzeitig die festgefahrene Situation an der Front zu verharmlosen oder zu beschönigen? Zumindest letzterer Versuchung erlag Wolodymyr Selenskyj am Dienstagabend nicht.

Doch der große Wurf war sie dennoch nicht, die Jahrespressekonferenz des ukrainischen Präsidenten vor changierendem Hintergrund, abwechselnd in Form einer EU-Flagge und der Ukraine in ihren Grenzen von 1991. Vor allem diejenigen, die sich einige erhellende Ausführungen zur komplexen innenpolitischen Gemengelage erhofft hatten, dürften enttäuscht gewesen und etwas ratlos zurückgeblieben sein.

Zu Recht. Selenskyj mäanderte, wich aus oder beantwortete die Fragen gleich gar nicht. Seine Meinungsverschiedenheiten mit dem Oberbefehlshaber der Armee, Walerij Saluschnyj, die seit Wochen offen zutage liegen, spielte er herunter und sprach von normalen Arbeitsbeziehungen. Dabei vergaß er jedoch nicht, darauf hinzuweisen, bei wem für was die Verantwortung liegt – unter anderem bei Saluschnyj. Das „Mastermind der Armee“ erfreut sich wachsenden Zuspruchs in der Bevölkerung.

Auch beim Thema Mobilmachung, ebenfalls ein heißes Eisen, blieb Selenskyj vage. Tatsache jedoch ist, dass die ukrainische Armee neben schlagkräftigen Waffen auch frische Kräfte braucht, um gegen den Aggressor Russland weiter bestehen zu können. Doch woher diese Ressourcen nehmen, wenn es gilt, anders als Kremlchef Wladimir Putin, bei derart gewichtigen Entscheidungen auch die Befindlichkeiten der Zivilgesellschaft zu berücksichtigen?

Befremdlich war überdies, wie barsch der Präsident bei seinem Auftritt einige Jour­na­lis­t*in­nen abkanzelte. Auch dies ist ein untrügliches Anzeichen dafür, dass Selenskyjs Nerven blank liegen. Aus gutem Grund: Sollten die US-Finanzhilfen wegen interner Querelen weiter ausbleiben, wird es für Kyjiw eng. Aber vielleicht gibt es doch noch ein positives Signal aus Washington. Den Ukrai­ne­r*in­nen wäre es zu wünschen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Die Idee der Mobilisierung auch von im Ausland lebenden Ukrainern ist das zwangsläufige Ergebnis der immensen Verluste der ukrainischen Streitkräfte. Diese wurden in einem Interview auf n-tv am heutigen Morgen mit dem Militärspezialisten Oberst a.d. Thiel auf ca. 800 Soldaten täglich beziffert.

    • @Trabantus:

      „Diese wurden in einem Interview auf n-tv am heutigen Morgen mit dem Militärspezialisten Oberst a.d. Thiel auf ca. 800 Soldaten täglich beziffert.“



      Solch hohe Ziffern nennt noch nicht mal das Russische Verteidigungsministerium in seinen täglichen Märchenerzählungen.