Im Herz der Bestien

Es muss nicht immer Kreuzberg sein: Linke Viertel wie Connewitz in Leipzig, die Hamburger Sternschanze oder das Bremer Steintorviertel sind trotz überschaubarer Größe wesentliche Schaltstellen der radikalen Linken

Zwischen Schlachtfeld und Szenewohnzimmer: die Rote Flora in Hamburg   Foto: NIBOR/action press

Von Jan-Paul Koopmann

Was macht einen Stadtteil linksradikal? In seinem Wesen, wenn man also Klischees und krawalllaunige Medienberichte beiseite lässt. Sind es die Wahlergebnisse dieser Bezirke? Und welche: Nur die Linkspartei oder darf man auch die Grünen mitzählen? Gehen stramme Autonome heutzutage überhaupt wieder wählen? Schwammig bleibt es auch beim Blick ins Straßenbild. Klar sind plakatierte Wände und einschlägige Band-Shirts Indizien, so wie die Buttons an den Schirmmützen. Aber es scheint doch zu kurz gegriffen, die linke Identität als kulturelles Phänomen abzuhandeln – als Pop also.

Aber geben tut es sie schon, diese unbestreitbar linken Quartiere wie Leipzigs Connewitz, die Sternschanze in Hamburg oder das Bremer Steintorviertel. Es mögen nur ein paar Straßenzüge sein, von denen aber überall und immer wieder die Rede ist. Hoffnungsvolle junge Linke ziehen her und treffen hier auf ältere, die es früher genauso gemacht haben. Aber wieso?

Man könnte es bei Gerüchten und Stilfragen belassen, hätte diese sonderbar wabernde Idee nicht so handfeste Konsequenzen. Für die linke Politikarbeit wird das gemütliche Miteinander schließlich auch zur Organisationsfrage: Weil man hier auf offene Ohren trifft, weil sich Reichweite herstellen lässt durch die überregional wahrgenommenen Veranstaltungsorte, Infoläden, selbstverwaltete (Online-) Radios und auch informellere Mobilisierungskanäle. Dass in Bremen etwa die Querdenker-Szene keinen Fuß auf den Boden bekommen hat, lag auch daran, dass nach jeder Sichtung in allen WGs des Seintorviertels mindestens zwei Handys gleichzeitig zu brummen begannen.

Es ist tatsächlich einfacher, hier irgendwas auf die Beine zu stellen. Weil das Know-How da ist, wie man ohne großes Geld an technische Gerätschaften kommt, oder wie sich finanzielle Fördermittel akquirieren lassen. Umgekehrt bewegt man sich in der linken Homezone aber nah am Repressionsapparat. Routinemäßige Überwachung durch Polizei und Verfassungsschutz trifft Menschen hier leichter als anderswo, während Angriffe von Neonazis zwar seltener sind, aber doch eine besondere Qualität erreichen können, wenn rechte Straßenkämpfer „gerade hier“ beweisen wollen, was sie so drauf haben. Auch nach acht Jahren bleibt der „Sturm auf Connewitz“ unvergessen, als 200 vermummte Rechtsextreme in wenigen Minuten Treffpunkte, Szenekneipen und Geschäfte des Leipziger Szeneviertels demolierten. Das war eine Machtdemonstration an eben nicht zufälliger Stelle.

Nun mag es ein unglücklicher Schnellschuss sein, linke Bewegung auf die Gewaltfrage herunterzubrechen – eine Rolle spielt sie aber bestimmt. Gerade in Connewitz. Denn auch wenn die Geschichte der hiesigen Alternativszene bis weit in die DDR-Zeit zurückgeht, kam das Viertel politisch doch erst in den frühen 1990er Jahren zu sich. Das heute legendäre Veranstaltungszentrum Conne Island etwa wurde damals von einem breiten linken Bündnis erkämpft, dessen gemeinsamer Nenner eben die Antifaarbeit gegen extrem bedrohliche Nazigewalt war.

In Hamburg haben militante Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt um die besetzten Häuser in der Hafenstraße Anstoß und Vorbild gestiftet. Und selbst im beschaulichen Bremen hatten sich linke und migrantische Initiativen im Steintorviertel nach Fußballspielen von Werder Bremen – heute unvorstellbar – früher regelmäßig mit marodierenden Nazi-Hooligans herumzuschlagen.

Beim Sortieren der Unterschiede und Gemeinsamkeiten äußerst hilfreich ist die Studie „Die Genese politisch linker Stadtquartiere im Vergleich“, die das Leipziger „Institut B3 – Beratung, Bildung und Begleitung“ herausgibt. Entlang Berichten von Zeit­zeu­g:­in­nen und soziographischen Daten hat ihr Autor Nils M. Franke nach Gemeinsamkeiten gesucht und auch Handfestes gefunden.

So waren all diese linken Quartiere zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zum Abriss freigegeben. Das Bremer Steintorviertel sollte seit den 1960ern der Verkehrsplanung einer vermeintlich entstehenden Millionenstadt weichen, die Sternschanze wurde in den 70ern angezählt und Connewitz hätte ganz konkret im Jahr 1984 abgerissen werden sollen. Entsprechend schlecht sei der Zustand der Häuser gewesen: Wer investiert schon in Abbruchmaterial? Die Folge war spottbilliger Wohnraum, attraktiv für Studierende und anderes Szenepublikum.

Was die Studie ebenfalls herausarbeitet, ist die überraschende Rolle bürgerlicher Instrumente wie des Denkmalschutzes, weil es sich in diesen Vierteln überwiegend um Altbausubstanz handelt. Die heute von Graffiti und Wildplakaten tapezieren Altbauten sind kein architektonischer Zufall, sondern ein ganz wesentlicher Grund, warum es diese Viertel überhaupt gibt.

Die Autonomen fahren ganz gut mit der Drohung, es im Zweifelsfall knallen zu lassen

Wichtig sind Kulturzentren wie das Conne Island in Leipzig und die Rote Flora in Hamburg. Beide stehen stellvertretend komprimiert für die Entwicklung ihrer ganzen Quartiere. Hier zeigen sich auch wesentliche Unterschiede: So ist das Conne Island geprägt durch notwendige Zugeständnisse an einen übermächtigen Staatsapparat. Seit 1992 wurde die „Leipziger Linie“ durchgesetzt, also die konsequente Räumung von Neubesetzungen sowie die vertraglich eingeklammerte Legalisierung bereits bestehender. Manche wurden auch in andere Stadtteile umgesiedelt, ausdrücklich, um das linksradikale Connewitz zu entschärfen. Das Conne Island bekommt als Jugendzentrum staatliche Förderungen, hat sogar bezahlte Stellen geschaffen und damit offizielle Akteu­r:in­nen mit Namen und Adressen.

In Hamburg hingegen konnte die radikale Linke aus einer Position relativer Stärke über die Rote Flora verhandeln – und kämpfen. Zwischen Stadt und Käufer des ehemaligen Theaters gab es Sollbruchstellen, vor allem war aber das Interesse an einer Eskalation nach den damals noch frischen Erfahrungen der Hafenstraße eher überschaubar. Es mögen auch Mythos und Selbstüberschätzung dazu beitragen, aber zumindest fahren die post-autonomen Gruppen in der Flora ganz gut mit der latenten Drohung, es im Ernstfall knallen zu lassen – und sich bei rechtlichen Reibereien mit Polizei oder der Gema im Zweifel auf die Behauptung zurückziehen, selbst gar nicht so ganz genau zu wissen, wer nun eigentlich hinter diesem Konzert oder jenem Aktionstraining stecke. Außerdem war es hier dank unzähliger anderer Veranstaltungsorte sicher auch leichter, sich in der unkommerziellen D.I.Y.-Nische einzurichten.

Aber so unterschiedlich die Wege auch sind: Rote Flora und Conne Island haben linke Aktionsräume geschaffen und über 30 Jahre halten können, die weit über ihre Kieze hinaus wirken. Und wenn die umliegenden Viertel heute auch wegen der linken Kulturarbeit als gentrifiziert gelten, sind sie doch wesentliche Bezugspunkte für die ganze Bewegung: Mythen, die dann doch Realität stiften.