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Platzfragen bei einer Fahrt im ZugDie Beschämung in den Sitzreihen

Im Zug kommt man anderen Menschen oft nahe. Natürlich geht es auch dabei um das Aushandeln von Dissonanzen im öffentlichen Raum, sagt der Ethikrat.

Beim Stehen hält man Abstand. So richtig nah kommt man sich im Zug oft erst im Sitzen Foto: Helmut Fricke/dpa/picture alliance

K ürzlich saß ich im Zug neben einem sehr dicken Mann. Ich hatte den Platz neben ihm reserviert, und er stand in hohem Maß unfroh auf, um mich durchzulassen. Ich klappte die Armlehne herunter, um zu verhindern, dass er auf meinem Sitz hinüberragte, und während ich es tat, fragte ich mich, ob ich den Mann damit beschämte. Er war unangenehm, aber seine Fülle war nicht seine Schuld, und eigentlich verlangte sie nach eineinhalb Sitzen.

Wieso kann ich nicht eine Armlehne her­unterklappen, ohne ans nächste Schuldkreuz zu steigen, dachte ich

„Möchtest du zu mir kommen?“, fragte die Tochter des unangenehmen Mannes, die auf der anderen Zugseite saß, ihren Vater, und ich fühlte mich wie ein Paria.

Er blieb neben mir sitzen. „Es riecht schlecht“, sagte er kritisch ins Unbestimmte. Ich fragte mich, ob an meinen Schuhen noch der Mist vom Bergbauernhof klebte, auf dem ich geholfen hatte, aber ich konnte keine Spuren entdecken. Vielleicht war es der Käse, den mir der Bauer zum Dank geschenkt hatte.

„Wieso kann ich nicht eine Armlehne her­unterklappen, ohne ans nächste Schuldkreuz zu steigen“, dachte ich, „kein Wunder, dass mein Leben ein großes Patt ist.“ „Die Fahrkarten bitte“, sagte da jemand, und als ich aufsah, erkannte ich den Ethikrat. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Fragen praktischer Ethik geben. Der Rat trug blaue Anzüge und Kappen, die historisch wirkten, aber niemand schien daran Anstoß zu nehmen.

„Hier“, sagte der unangenehme Mann ohne aufzuschauen und hielt sein Handy hoch. „Sicher ist Ihnen bewusst, dass im Gespräch das Anerkennen des anderen als Gegenüber unter anderem durch Augenkontakt ermöglicht wird“, sagte der Ratsvorsitzende und legte einen rostigen Kartenknipser beiseite. Er nahm dem unangenehmen Mann das Handy aus der Hand und betrachtete es unschlüssig.

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Beschämung als wichtiger Punkt

„Hier ist meine Fahrkarte“, drängte ich mich dazwischen. „Sind Sie nebenberuflich hier?“, flüsterte ich dem Ethikrat zu. „Nein“, flüsterte der Ratsvorsitzende zurück, „dies ist ein Feldversuch zum Aushandeln von Dissonanzen im öffentlichen Raum.“ „Oh“, sagte ich, „ist da Beschämung nicht ein wichtiger Punkt?“ „Sie haben vollkommen recht, Frau Gräff“, sagte der Vorsitzende, und sein ungewohntes Lob ließ mich erröten. „Meine Cousine erzählte einmal, dass sie in Japan im öffentlichen Bad versehentlich nackt in den Männerbereich ging“, begann ich und dachte, dass das als philosophische Hinführung unwahrscheinlich wirkte.

Der unangenehme Mann nahm dem Ratsvorsitzenden das Handy weg, aber der Vorsitzende gab vor, es nicht zu bemerken. „Sie sagte“, fuhr ich hastig fort, „dass keiner der Männer sich anmerken ließ, dass das nicht vorgesehen war. Sie blieb sozusagen unsichtbar, weil man sie nicht beschämen wollte. Ist das nicht eine großartige kulturelle Leistung, wenn eine Gesellschaft sich genau das auf die Fahnen schreibt? Und das in Zeiten, wo die Beschämung in den sozialen Medien Volkssport ist“, sagte ich und sah aus den Augenwinkeln, dass der unangenehme Mann ein Video vom Kampf zweier Sumoringer aufgerufen hatte.

Eine Mutter mit einem quengelnden Kleinkind vor dem Bauch tippte dem Ratsvorsitzenden an die Schulter. „Können Sie mir etwas zum Anschluss in Wuppertal sagen?“, fragte sie. „Gewiss“, sagte der Vorsitzende und zog ein Kursbuch aus seiner Tasche. „Aber können Sie mir vorher vielleicht noch sagen, wie man zwischen der Beschämung des anderen und der Behauptung der eigenen Rechte abwägt?“, rief ich. Der unangenehme Mann sah plötzlich interessiert von seinem Handy auf. Aber da betrat eine Schaffnerin das Abteil und der Ethik­rat entfernte sich eilig.

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
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11 Kommentare

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  • Besser man reserviert direkt zwei Sitzplätze. Nicht zwei nebeneinander liegende, sondern entfert voneinander. Es wäre unwahrscheinlich, dass sich auf beide der jeweils zweiten Plätze eine unangenehme Person setzt.



    So ließe sich der Platz wechseln und hielte sich dennoch die Möglichkeit auf eine nette Unterhaltung frei..

  • Lösung in Japan: spezielle, unterschiedliche Waggons jeweils ausschließlich für oder ohne Reservierung.

    • @Slim Charles:

      Blöd wäre es dann nur, wenn so eine unangenehme Person den Platz neben einem reserviert hätte..

      • @DerzuWirDuEs:

        Leider sind die Öffentlichen voll von unangenehmen Personen aller Art. Ein gesellschaftliches Problem. Auch hier lobe ich mir Japan. Unglaublich der Respekt und die Rücksicht dort untereinander in der Öffentlichkeit.

  • Ich habe mich schon immer gefragt, warum man in der 2. Klasse nur einen Arm in Ruhe dabei haben kann, den anderen muss man immer irgendwie seltsam unterbringen...

  • 1. Klasse hat man Platz!



    Und früher in den Abteilen auch!

    Die Deutsche Bahn und der Aktiengang sind das Problem, nicht unsere individuelle physische, pschische oder oder mentale Verfasstheit!



    Wir sollten uns von der Profitgier nicht auch noch pathologisieren lassen bzw. selbst pathologiseiren!

  • zwei Varianten:



    - die Autorin reserviert keinen Platz, sondern setzt sich dahin, wo es gerade gut passt



    (so mache ich es seit Jahren erfolgreich)



    - die Autorin fühlt sich von der Frage der Tochter angesprochen, bejaht und setzt sich neben die Tochter, unterhält sich gut mit ihr und der sog. unangenehme Mann, sagen wir lieber, der recht dicke Mann behält die anderthalb Plätze, die er braucht, für sich



    und so werden alle glücklich



    :-)

    • @Brombeertee:

      Oder No. 3: Die Autorin schaut, ob es noch andere freie Plätze gibt und lässt die Reservierung Reservierung sein.

      Es ist so arg deutsch, in einem Zug mit Platz unbedingt den unbequemen reservierten Platz einnehmen zu müssen.

      Besonders lustig an dieser Verkrampftheit ist, dass der reservierte Platz eh nach 15min freigegeben wird.

      • @J_CGN:

        Das Problem damit ist, dass man nicht zuverlässig sieht, welcher Platz "frei" ist. Die sind alle "ggf. freizugeben", wenn an der nächsten Station eine*r einsteigt, die kurzfristig online reserviert hat - und ich stehe die nächsten 5 Stunden. Deshalb setze ich mich auf meinen Platz - der sonst nämlich (siehe oben) auch weg ist.

    • @Brombeertee:

      Super Sache!

    • @Brombeertee:

      cool :-)