Platzfragen bei einer Fahrt im Zug: Die Beschämung in den Sitzreihen
Im Zug kommt man anderen Menschen oft nahe. Natürlich geht es auch dabei um das Aushandeln von Dissonanzen im öffentlichen Raum, sagt der Ethikrat.
K ürzlich saß ich im Zug neben einem sehr dicken Mann. Ich hatte den Platz neben ihm reserviert, und er stand in hohem Maß unfroh auf, um mich durchzulassen. Ich klappte die Armlehne herunter, um zu verhindern, dass er auf meinem Sitz hinüberragte, und während ich es tat, fragte ich mich, ob ich den Mann damit beschämte. Er war unangenehm, aber seine Fülle war nicht seine Schuld, und eigentlich verlangte sie nach eineinhalb Sitzen.
„Möchtest du zu mir kommen?“, fragte die Tochter des unangenehmen Mannes, die auf der anderen Zugseite saß, ihren Vater, und ich fühlte mich wie ein Paria.
Er blieb neben mir sitzen. „Es riecht schlecht“, sagte er kritisch ins Unbestimmte. Ich fragte mich, ob an meinen Schuhen noch der Mist vom Bergbauernhof klebte, auf dem ich geholfen hatte, aber ich konnte keine Spuren entdecken. Vielleicht war es der Käse, den mir der Bauer zum Dank geschenkt hatte.
„Wieso kann ich nicht eine Armlehne herunterklappen, ohne ans nächste Schuldkreuz zu steigen“, dachte ich, „kein Wunder, dass mein Leben ein großes Patt ist.“ „Die Fahrkarten bitte“, sagte da jemand, und als ich aufsah, erkannte ich den Ethikrat. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Fragen praktischer Ethik geben. Der Rat trug blaue Anzüge und Kappen, die historisch wirkten, aber niemand schien daran Anstoß zu nehmen.
„Hier“, sagte der unangenehme Mann ohne aufzuschauen und hielt sein Handy hoch. „Sicher ist Ihnen bewusst, dass im Gespräch das Anerkennen des anderen als Gegenüber unter anderem durch Augenkontakt ermöglicht wird“, sagte der Ratsvorsitzende und legte einen rostigen Kartenknipser beiseite. Er nahm dem unangenehmen Mann das Handy aus der Hand und betrachtete es unschlüssig.
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Beschämung als wichtiger Punkt
„Hier ist meine Fahrkarte“, drängte ich mich dazwischen. „Sind Sie nebenberuflich hier?“, flüsterte ich dem Ethikrat zu. „Nein“, flüsterte der Ratsvorsitzende zurück, „dies ist ein Feldversuch zum Aushandeln von Dissonanzen im öffentlichen Raum.“ „Oh“, sagte ich, „ist da Beschämung nicht ein wichtiger Punkt?“ „Sie haben vollkommen recht, Frau Gräff“, sagte der Vorsitzende, und sein ungewohntes Lob ließ mich erröten. „Meine Cousine erzählte einmal, dass sie in Japan im öffentlichen Bad versehentlich nackt in den Männerbereich ging“, begann ich und dachte, dass das als philosophische Hinführung unwahrscheinlich wirkte.
Der unangenehme Mann nahm dem Ratsvorsitzenden das Handy weg, aber der Vorsitzende gab vor, es nicht zu bemerken. „Sie sagte“, fuhr ich hastig fort, „dass keiner der Männer sich anmerken ließ, dass das nicht vorgesehen war. Sie blieb sozusagen unsichtbar, weil man sie nicht beschämen wollte. Ist das nicht eine großartige kulturelle Leistung, wenn eine Gesellschaft sich genau das auf die Fahnen schreibt? Und das in Zeiten, wo die Beschämung in den sozialen Medien Volkssport ist“, sagte ich und sah aus den Augenwinkeln, dass der unangenehme Mann ein Video vom Kampf zweier Sumoringer aufgerufen hatte.
Eine Mutter mit einem quengelnden Kleinkind vor dem Bauch tippte dem Ratsvorsitzenden an die Schulter. „Können Sie mir etwas zum Anschluss in Wuppertal sagen?“, fragte sie. „Gewiss“, sagte der Vorsitzende und zog ein Kursbuch aus seiner Tasche. „Aber können Sie mir vorher vielleicht noch sagen, wie man zwischen der Beschämung des anderen und der Behauptung der eigenen Rechte abwägt?“, rief ich. Der unangenehme Mann sah plötzlich interessiert von seinem Handy auf. Aber da betrat eine Schaffnerin das Abteil und der Ethikrat entfernte sich eilig.
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