Neuer Film „Napoleon“: Ein Mann fällt aufwärts
Ridley Scott zeichnet mit „Napoleon“ ein wenig vorteilhaftes Porträt des französischen Diktators. Joaquin Phoenix gibt den Herrscher mit Zweispitz.
Paris, 1793: Während der Henker den frisch guillotinierten Kopf von Marie Antoinette in die Luft reckt und die auf dem Richtplatz versammelte Menschenmenge jubelt, blickt ein junger Artillerieoffizier skeptisch drein. Wenige Wochen später wird dieser Artillerieoffizier für die junge Republik die britische Blockade der Hafenstadt Toulon beenden. Kurz bevor er den Angriff befiehlt auf das Fort, das den Hafen überblickt, ist Napoleon (Joaquin Phoenix) in Ridley Scotts neustem Film die Aufregung anzumerken.
Während seine Infanterie das Fort stürmt, stolpert der spätere Kaiser in Ridley Scotts Spielfilm „Napoleon“ eher zum Sieg. Kaum setzt er sich mit seinem Pferd in Bewegung, wird dieses frontal von einer Kanonenkugel getroffen, als Napoleon keuchend vor Anstrengung die Brüstung des Forts erklommen hat, sieht er sich einem deutlich stärkeren britischen Soldaten gegenüber und wird erst durch das Eingreifen eines französischen Soldaten gerettet. „Napoleon“ etabliert früh eine wenig heldenhafte Zeichnung des Protagonisten.
„Napoleon“. Regie: Ridley Scott. Mit Joaquin Phoenix, Vanessa Kirby u. a. USA/Vereinigtes Königreich 2023, 157 Min. Ab 23. 11. im Kino
Der Sieg in Toulon und die anschließende Beförderung zum Brigadegeneral wird zum Ausgangspunkt von Napoleons Karriere. Als er wenig später bei einem Ball Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby) begegnet und sie quer durch den Raum anstarrt, antwortet er stammelnd auf ihre Nachfragen. Die beiden sehen sich wieder, heiraten kurz darauf, was den Anfangspunkt zu einer Reihe von presslufthammerartigen Sexszenen setzt. Joséphine de Beauharnais lässt das alles mit beeindruckender Gleichgültigkeit über sich ergehen.
1799, zehn Jahre nach der Revolution, reißt Napoleon mit einem kleinen Kreis Verschworener die Macht an sich. Auch bei diesem Coup gibt Napoleon in Scotts Film kein gutes Bild ab: Er wird von den Angehörigen des Parlaments überwältigt und flüchtet sich nur knapp vor die Tür zu Soldaten, die ihm ergeben sind. Napoleon ernennt sich darauf nach Vorbild der antiken römischen Republik zum ersten Konsul.
Napoleon als unsicherer Tölpel
Napoleon umwirbt die europäischen Mächte. Er unterbreitet den Briten ein Friedensangebot, umwirbt später Zar Alexander. Als er den britischen Botschafter trifft, nachdem das Friedensangebot unbeantwortet geblieben ist, zetert er diesen an: „Ihr Briten denkt, ihr seid so großartig, weil ihr Boote habt.“
Zwischen die Episoden vom Aufstieg Napoleons hat Scott Weißblenden gesetzt. Die weiße Leinwand wirkt wie eine Erinnerung an die Projektionsfläche, die Napoleon seit seinem Tod immer wieder war – als vermeintlicher Kriegstreiber, als großer Reformer, als Bedrohung der feudalen Ordnung Europas, als Neuerer.
Scotts Napoleon ist ein unsicherer Tölpel, der stets etwas zu hoch pokert, letztlich aber durch glückliche Umstände unaufhaltbar aufwärts fällt, vorangetrieben von seiner innig geliebten Mutter und Joséphine de Beauharnais. Phoenix lässt Napoleon schnaufen und grunzen. Doch darüber hinaus bleibt das Bild von Napoleon, das Scott und sein Hauptdarsteller entwerfen, unklar.
Weil Napoleon als Figur schwer zu fassen bleibt, wirkt auch dessen Entwicklung in dem Film rätselhaft. Kurz nach der Tour de Force durch die Anfänge von Napoleons Karriere ist der Kaiser in der Schlacht von Austerlitz plötzlich genialer Stratege, lockt die vereinigten Truppen der Österreicher und Russen in eine Falle, indem er Truppen auf einer Anhöhe verbirgt und Kanonen abdeckt.
Filmisch ist das recht mittelmäßig in Szene gesetzt: Die Zeichnung der Schlacht ist holzschnittartig, die Befehle würden in ihrer Unklarheit unweigerlich zu Chaos führen und besonders koordiniert wirken die Bewegungen der zahllosen Komparsen auch nicht.
Spätestens jetzt muss man sich die Frage stellen, was Scott denn nun eigentlich an der Figur gereizt hat. Die Figur Napoleon bietet Stoff für jeden Regiegeschmack: sein Aufstieg und seine Feldzüge durch Europa, bei denen er ganze Regionen befreit und geplündert hat, böten je nach Vorliebe Stoff für eine europäische Selbstbefragung oder militärische Kostümdramen. Sein politisches Taktieren und seine Reformen in Europa und die gleichzeitige Wiedereinführung der Sklaverei in den Kolonien laden ein zu einer Globalgeschichte.
Napoleon ist ein dankbarer Stoff, man muss sich nur entscheiden. Genau das tut Ridley Scott aber nicht. Er interessiert sich weder für den Politiker noch für den Feldherrn sonderlich, skizziert jedoch pflichtschuldig alles ein bisschen. Er räumt der Beziehung zwischen dem Kaiser und Joséphine de Beauharnais einigen Raum ein, ohne dass die Darstellung der Beziehung je besondere Tiefe bekäme. Napoleon und Joséphine verlieben sich, streiten, haben besagten Presslufthammer-Sex und trennen sich schließlich widerwillig, als der gewünschte Thronfolger ausbleibt.
Scotts Film dauert zweieinhalb Stunden, ein Director’s Cut von über vier Stunden ist geplant. Beides ist viel Zeit, aber zu wenig, um all die Ereignisse, die sich in Napoleons Leben abspielten, darzustellen und nebenher noch ein Beziehungsdrama einzufädeln. Nicht zufällig haben sich viele der bisherigen Napoleon-Filme auf bestimmte Abschnitte des Lebens des französischen Kaisers konzentriert.
Abel Gances monumentaler, fünfeinhalbstündiger Stummfilm von 1927 beschränkt sich auf die Zeit vor Napoleons Selbsternennung zum Konsul. In jenen Szenen aus Ridley Scotts Film, in denen Napoleon Joséphine kennenlernt, klingt Gances Film deutlich an.
Schockstarr angesichts der Fülle des Materials
Lupu Picks Stummfilm „Napoleon auf St. Helena“ (1929) beschränkt sich auf die letzten Lebensjahre. Das ist auch der Fokus eines Theaterstücks von Giovacchino Forzano, an dem Benito Mussolini als Ideengeber mitgewirkt hat und das Mitte der 1930er Jahre Ausgangspunkt einer frühen filmischen Kooperation zwischen italienischem und deutschem Faschismus war („Hundert Tage“/“Campo di maggio“).
Karl Grune und Sergei Bondartschuk haben sich 1929 beziehungsweise 1970 der Schlacht von Waterloo angenommen. Vor allem Bondartschuk bemühte sich um eine akkurate Annäherung an den Verlauf der Schlacht, die das Ende von Napoleons politischer Karriere markieren sollte. Auch aus Bondartschuks Film klingen in „Napoleon“ einige Szenen während der Schlacht bei Waterloo an, doch erneut bleibt Scotts Inszenierung in der Präzision weit hinter dem Vorbild zurück.
„Napoleon“ krankt letztlich an denselben Problemen, die vor knapp zehn Jahren schon Scotts „Exodus: Götter und Könige“ plagten und die sich als Monumentalität um der Monumentalität willen beschreiben lassen. Wie „Exodus“ ist auch „Napoleon“ ein solide inszenierter Kostümschinken, der nicht wehtut, der einen als Zuschauer aber auch gleichgültig lässt. Auch von den Bildern von Kameramann Dariusz Wolski bleibt wenig im Kopf, nachdem man das Kino verlassen hat.
Empfohlener externer Inhalt
„Napoleon“ Trailer
Am meisten wundert man sich, dass Scott nicht mehr aus den Szenen mit Napoleon und Joséphine macht. Hätte er der Dekonstruktion Napoleons als Übermann ein wenig mehr Interesse an der Figur Joséphine gegenübergestellt, wäre ein deutlich interessanterer Film herausgekommen.
Stattdessen wirkt Scotts Inszenierung schockstarr angesichts der Fülle des Materials. Man darf gespannt sein, ob das beim nächsten absehbaren Napoleon-Projekt auch so sein wird. Steven Spielberg arbeitet seit Jahren an einer Adaption von Stanley Kubricks seinerzeit nicht realisiertem Napoleon-Film, als Serie für den US-Sender HBO.
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