Da hilft nur massenhafte Einbürgerung

Wegen antisemitischer Demos will die CDU die Staatsbürgerschaftsreform stoppen. Dabei ist migrantischer Judenhass auch ein Ergebnis restriktiver Einwanderungspolitik

Von Volkan Ağar

Bevor ich pünktlich zur Volljährigkeit endlich meinen schönen, bordeauxroten deutschen Pass in den Händen halten durfte, musste ich ein Versprechen abgeben: Mit einer Unterschrift sollte ich dem deutschen Staat – um dessen Bürger zu werden, hatte ich ein langes und mühevolles bürokratisches Prozedere durchlaufen – versichern, dass ich keine extremistischen oder terroristischen Absichten verfolge, und mich zum Grundgesetz bekennen.

15 Jahre später erinnert mich CDU-Chef Friedrich Merz daran, wie absurd ich es fand, dass mir der Sachbearbeiter nach allem, was ich als in Deutschland geborene Person bereits geliefert hatte, noch diese Loyalitätserklärung vorlegte. Natürlich unterschrieb ich. Weil ich endlich diesen deutschen Pass haben wollte. Weil ich tatsächlich auch kein Terrorist war. Aber auch ein Terrorist hätte einfach unterschrieben, um den deutschen Pass zu bekommen, und dann weiter seine terroristischen, verfassungsfeindlichen Ziele verfolgt.

Merz hatte vergangene Woche angesichts antisemitischer Demonstrationen in Deutschland nach dem barbarischen Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober gefordert, die Anerkennung Israels per Unterschrift zur Voraussetzung einer Einbürgerung zu machen. „Die zu schnelle Einbürgerung muss gestoppt werden“, sagte der Oppositionsführer außerdem.

Sein Generalsekretär ­Carsten Linnemann legte vor wenigen Tagen nach und forderte den Stopp der von der Ampelregierung beschlossenen Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts. Demnach sollen sich Personen bereits nach fünf Jahren legalen Aufenthalts für den deutschen Pass bewerben können statt wie bisher nach acht. Außerdem will die Regierung doppelte Staatsbürgerschaften erlauben. „Die Geschehnisse der vergangenen Tage und Wochen haben gezeigt, dass weder die Staatsbürgerschaft noch der bloße Erwerb der deutschen Sprache zu einer entsprechenden Integration in unsere Wertegemeinschaft führen“, sagte Linnemann. Die „Expresseinbürgerung“ sende „völlig falsche Signale“.

Auch in einem 26-Punkte-Forderungskatalog der CDU zum Thema Migration heißt es ohne Belege, dass die Erleichterung der Einbürgerung ein Anreiz für illegale Mi­gra­tion darstelle und verhindert werden müsse. Einbürgerung müsse am Ende einer gelungenen Integration stehen, nicht am Anfang, propagieren CDU-Politiker immer wieder.

Wer den machtpolitischen Manövern der CDU folgt, verstärkt die Zersplitterung der postmigrantischen Gesellschaft

Dabei beweisen antisemitische Demonstrationen, das Feiern von Terror durch Menschen mit Migrationshintergrund und die Empathielosigkeit gegenüber Jüdinnen und Juden gerade das Gegenteil. Das res­trik­ti­ve deutsche Staatsbürgerschaftsrecht – das seine Wurzeln im bis zur Jahrtausendwende (!) einzig geltenden Ius sanguinis, dem Recht des Bluts, hat, wonach jemand nur Deutscher werden kann, wenn ein Elternteil die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt – hat offensichtlich nicht dazu geführt, einer politischen, sozialen und moralischen Zersplitterung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Vielmehr hat rechtliche Ungleichbehandlung begünstigt, dass sich viele Menschen weder mit dem deutschen Staat noch mit irgendeiner Art von Staatsräson identifizieren, geschweige denn sich als Teil einer deutschen Gesellschaft verstehen, deren Mitglieder sich auf einen demo­kratischen Grundkonsens einigen.

Statt Mi­gran­t:in­nen einzubürgern, sich somit einer unumgänglichen Auseinandersetzung über die Art und Weise eines guten Zusammenlebens in einer Einwanderungsgesellschaft zu stellen, die neuen Deutschen dann auch wie jeden anderen Bürger zur Rechenschaft ziehen zu können, ohne sich dabei Vorwürfen der Ungleichbehandlung aussetzen zu müssen, propagierten deutsche Po­li­ti­ke­r:in­nen jahrzehntelang einen fehlgeleiteten Multikulturalismus: Sollen die Ausländer doch in ihren eigenen Vierteln ihr eigenes Ding machen, solange sie hier nur hart genug arbeiten und uns Deutsche in Ruhe lassen!

„Die Erfahrung, in einer Gesellschaft zu leben, die weniger engstirnig, dafür dynamischer und kosmopolitischer wird, sollte begrüßt und gefeiert werden.“ So unterschied der britische Publizist Kenan Malik vor zehn Jahren schon die zwei Bedeutungen des Multikulturalismus in seinem viel beachteten Essay „Das Unbehagen in den Kulturen“. „Als politischer Prozess bedeutet Multikulturalismus jedoch etwas anderes. Hier beschreibt der Begriff ein Bündel politischer Maßnahmen, um Vielfalt zu verwalten und zu institutionalisieren, indem Menschen in ethnische und kulturelle Schubladen gesteckt werden. Sodann werden ihre individuellen Rechte und Bedürfnisse anhand ebenjener Schubladen bestimmt und die Schubladen so zum Gestalten der öffentlichen Ordnung genutzt.“ Diese Politik, die Minderheitengruppen überhaupt erst geschaffen habe, habe einerseits zur Entfremdung vieler Mi­grant:in­nen von der Mehrheitsgesellschaft geführt und andererseits dazu, dass Mi­grant:in­nen als Sündenböcke hätten herhalten müssen.

Zum Glück erinnere ich mich heute nicht nur an meine schriftliche Distanzierung vom Terrorismus, sondern auch an das schöne Gefühl, endlich mitmachen zu dürfen, als ich als Sohn türkischer ­Arbeitsmigranten bei meiner ersten Bundestagswahl den Umschlag mit meiner Stimme in die Urne gesteckt habe. Ich erinnere mich daran, wie sehr ich das Privileg einer deutschen Staatsbürgerschaft schätzte, als ich das erste Mal mit dem deutschen Pass gereist bin und nicht von Grenzbeamten aufgehalten wurde. Ich erinnere mich an meine Erleichterung, nicht mehr von der Gunst der deutschen Ausländerbehörde oder des türkischen Konsulats abzuhängen.

Deutsch gestempelt: Eine Behördenleiterin unterzeichnet in Sachsen-Anhalt einen Einbürgerungsbescheid Foto: Thomas Victor/Agentur Focus

Welches Demonstrationsverbot, welche Vizekanzleransprache, welcher Polizeieinsatz, welche schriftliche Loyalitätserklärung kann dieses Gefühl dabei übertreffen, Akzeptanz für und Identifikation mit dem demokratischen Grundkonsens in einer vielfältigen Gesellschaft zu schaffen?

Wer Antisemitismus bekämpfen und demokratische Werte stärken will, muss sich also auch davon verabschieden, die rechtliche Ungleichbehandlung mit leeren folkloristischen Sonntagsreden zu verwalten und migrantische Menschen, die zum Teil seit Jahrzehnten in Deutschland leben und arbeiten, ewig hinzuhalten. Wer jene hehren Ziele verfolgt, muss massenhaft einbürgern – und zwar sofort!

Wer dagegen den machtpolitischen Manövern der CDU folgen möchte, verstärkt nur weiter die Zersplitterung der postmigrantischen Gesellschaft in Deutschland, die trotz aller restriktiven Migrationspolitik postmigrantisch bleiben wird.Was wir gerade erleben, dürfte dann nur der Anfang eines leidvollen Auflösungsprozesses der Gesellschaft sein.