Lena Kampf über #MeToo-Recherchen: „Wir wollen niemanden canceln“

Seit #MeToo nimmt Verdachtsberichterstattung zu, Urteile definieren deren Regeln neu. Ein Gespräch über die Rammstein-Recherche und ihre Auswirkungen.

Till Lindemann in roter Lederkleidung auf der Bühne, Fans recken die Arme

Auch 2024 will Rammstein auf Europa-Tour gehen Foto: Carlos Santiago/ Eyepix Group /picture alliance

wochentaz: Frau Kampf, Verdachtsberichterstattung hat im Journalismus strenge Regeln. Aber immer, wenn über #MeToo-Fälle berichtet wird, kommt es im Nachhinein zu juristischen Auseinandersetzungen. Wieso wissen Jour­na­lis­t*in­nen nicht im Vorhinein, was erlaubt ist und was nicht?

Lena Kampf: Als Presse gehört es zu unseren Kernaufgaben, Verdachtsmomenten nachzugehen und sie öffentlich zu machen. Gleichzeitig wissen wir, dass die Person, über die wir berichten, beschädigt werden kann. Das ist immer eine Gratwanderung, weil ein „Verdacht“ Existenzen vernichten kann. Auf der einen Seite steht das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen und auf der anderen das öffentliche Informationsinteresse. Es muss jedes Mal abgewogen werden: Gibt es ein öffentliches Interesse und haben wir einen Mindestbestand an Beweistatsachen, das heißt: Wie stark sind unsere Belege?

geboren 1984, war sie maßgeblich an den Recherchen zu Rammstein beteiligt. Sie ist stellvertretende Leiterin im Ressort Investigative Recherche der Süddeutschen Zeitung. Ihr Schwerpunkt liegt auf Recherchen zu sexualisierter Gewalt, Rechtsextremismus und Terrorismus, Polizei und Justiz.

Wenn beides gegeben ist, dann darf berichtet werden?

Grundsätzlich ja, aber unter bestimmten Bedingungen. Nämlich ohne Vorverurteilung, sachlich und ausgewogen. Wir sind zum Beispiel verpflichtet, auch entlastende Umstände mitzuteilen, soweit es sie gibt. Im Fall von Rammstein heißt das, dass wir auch Schilderungen von Frauen eingearbeitet haben, die gute Erfahrungen mit Till Lindemann gemacht hatten. Außerdem gehört es selbstverständlich dazu, den Betroffenen anzuhören. Wenn eine dieser Voraussetzungen fehlt, dann wird die Berichterstattung rechtswidrig. Das heißt nicht zwangsläufig, dass sie falsch ist, aber dass wir über diesen Verdacht zu diesem Zeitpunkt nicht oder nicht in dieser Form hätten berichten dürfen.

Die Hürden führen dazu, dass #MeToo-Recherchen in der Regel sehr lange dauern. Im Fall von Rammstein haben sie nur rund 10 Tage gedauert. Wieso ging es dieses Mal so schnell?

Das liegt vor allem daran, dass die Vorwürfe schon vorher im Raum waren. Am 25. Mai 2023 hatte Shelby Lynn diese online veröffentlicht, am Pfingstwochenende kochte das Ganze langsam hoch. Am Montag haben mein Kollege aus der Recherchekooperation, Daniel Drepper, und ich beschlossen, einen Aufruf zu starten. Daniel hat getwittert: Helft uns recherchieren! Meldet euch bei uns, wenn ihr Beobachtungen oder Erfahrungen jeglicher Art gemacht habt. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise recherchieren wir erst einmal im Verborgenen und arbeiten uns wie beim Häuten einer Zwiebel an den Vorwurf und den davon Betroffenen heran. Dieses Mal ging es ja aber nicht darum, Vorwürfe öffentlich zu machen, sondern darum, sie ergebnisoffen zu prüfen.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Nach dem Aufruf haben sich schon in den ersten Stunden zahlreiche Frauen bei uns gemeldet. Am gleichen Abend hatten wir dann intensive Gespräche mit mehreren Quellen, auch mit welchen, die Sex mit Till Lindemann hatten und das heute für sich als übergriffig einordnen. Die Berichte haben wir intensiv geprüft. Und obwohl die Erzählungen variierten, bildeten sich schnell klare Muster in Bezug auf das sogenannte Casting-System heraus. Viele Quellen waren bereit, eidesstattliche Versicherungen abzugeben. Wir hatten also recht schnell genug, um das Casting-System bei den Konzerten zu beschreiben, und zudem zwei Frauen, die eine Eins-zu-eins-Situation schildern. So konnten wir nach wenigen Tagen schon die Konfrontation an Lindemann und die Band rausschicken.

Musste es auch so schnell gehen, weil Sie wussten, dass Kol­le­g*in­nen anderer Medien ebenfalls an dem Fall dran waren?

Man spürt schon eine Art Wettbewerb, aber es war immer klar, dass wir uns davon nicht beeinflussen lassen. Bei uns gilt: Richtig kommt vor schnell. Dazu kommt, dass man bei #MeToo-Recherchen oft mit traumatisierten Menschen Kontakt hat, die wir auf keinen Fall unter Druck setzen wollen. Aber wir wären mit unserer Recherche nicht an die Öffentlichkeit gegangen, wenn wir nicht sicher gewesen wären. Am Ende hatten wir zahlreiche eidesstattliche Versicherungen plus diverse eigene Recherchen, um das Ganze zu plausibilisieren.

Wozu braucht es eidesstattliche Versicherungen?

Um die Schilderungen der mutmaßlich Betroffenen im Rahmen eines presserechtlichen Verfahrens glaubhaft zu machen, also belegen zu können. Sie tragen für uns auch erheblich zur Glaubwürdigkeit der Zeuginnen bei. Zwar entfalten sie erst vor Gericht ihre Gültigkeit. Aber wenn Zeuginnen bereit sind, eine abzugeben, versichern sie, dass ihre Aussage stimmt. Denn wenn sie sich als falsch herausstellt, können sie dafür belangt werden. Es gibt aber auch gute Gründe für Informantinnen, diese nicht abzugeben: Wenn wir die Versicherungen vor Gericht vorlegen müssen, wird ihre Identität dort offenbart, das heißt, wir können sie als Quelle gegenüber der Gegenseite nicht mehr schützen. Das ist in meinen Augen ein großes Problem. Aber die Bedeutung dieser Versicherungen nimmt in den letzten Jahren in meiner Wahrnehmung zu, einfach weil wir mehr #MeToo-Berichterstattung machen und es da oft Aussage-gegen-Aussage-Situationen gibt. Wenn ich genügend Zeuginnen für einen Verdacht habe, muss ich mich ja nicht so stark auf solche Versicherungen stützen.

Doch auch die schützen nicht vor juristischen Auseinandersetzungen. Auch die Süddeutsche Zeitung (SZ) muss ihre Rammstein-Recherchen vor Gericht verteidigen. Wie viel Zeit nimmt das bei Ihnen ein?

Wir haben aktuell drei juristische Auseinandersetzungen mit zwei Mitgliedern von Rammstein, wovon zwei sich auf dieselbe Textstelle beziehen. Das machen vor allem unsere Juristen. Ich persönlich habe an drei Verhandlungen selbst teilgenommen, das ist zwar nicht zwingend erforderlich, aber ich finde es wichtig, dass wir für die Recherchen einstehen.

Letzte Woche hat die SZ gegen Lindemann gewonnen. Obwohl das Urteil nicht letztinstanzlich ist, heißt es, dass es die Pressefreiheit stärkt. Wieso?

Das Gericht hat sich sehr ausführlich mit unserer ersten Berichterstattung auseinandergesetzt. In ihrer Urteilsbegründung sagt die Kammer, dass es die Aufgabe der Presse ist, über einen Verdacht zu berichten, wenn die Kriterien eingehalten werden. Was bei uns der Fall ist, so das Urteil. Das Besondere ist, dass in der Urteilsbegründung betont wird, dass es unter bestimmten Gesichtspunkten in Ordnung ist, wenn es für einen Vorwurf nur eine Zeugin oder Zeugen gibt. Denn sonst würde es dazu führen, dass nie über Aussage-gegen-Aussage-Situationen berichtet werden dürfte.

Das wäre definitiv eine Einschränkung der Pressefreiheit.

Genau. Das Gericht betont auch, dass das Rekrutierungssystem, das Lindemann im Übrigen nie abgestritten hat, nicht getrennt von mutmaßlichen sexuellen Übergriffen betrachtet werden könne. Eine öffentliche Diskussion sei notwendig, wenn junge Frauen systematisch für sexuelle Handlungen ausgesucht werden und diese dabei vielleicht aus Unerfahrenheit in Situationen geraten könnten, aus denen sie allein nicht mehr herauskommen. Die öffentliche Auseinandersetzung sei besonders aus Präventionsgründen wichtig. Und das war ja unser Ziel. Wir wollten zeigen: Es gibt dieses Casting-System, und in der Spitze kann es dazu führen, dass Frauen in Situationen geraten, in denen sie Grenzen nicht mehr klar ziehen können.

Die Kommunikation über presserechtliche Urteile wird in den letzten Jahren immer mehr zum Politikum selbst. Oft beanspruchen beide Seiten für sich, den Fall gewonnen zu haben. Wie ist das möglich?

Das liegt an der aggressiven Pressearbeit der Gegenseite, die wirklich jeden veränderten Halbsatz mit großem Trommelwirbel ankündigen. Da geht es ja teilweise um Nichtigkeiten, die mit der Sache an sich nichts mehr zu tun haben. Der Spiegel hat meiner Beobachtung nach angefangen selbst ausführlich über Urteile zu berichten, in denen sie involviert sind. Wir bei der SZ haben eigentlich die Haltung, dass unsere Texte für sich stehen müssen. Wir merken aber auch, dass es wichtiger wird, unser Handwerk und unsere Recherchen zu erklären.

Kürzlich hat Rammstein angekündigt, nächstes Jahr auf Europatour zu gehen. Trotz vieler Recherchen gibt es also kaum Konsequenzen. Frustriert es Sie, dass Sie so viel Zeit in Recherchen stecken, die letztlich keine Auswirkungen haben?

Nein, es ist nie unser Ziel gewesen, dass Konzerte abgesagt werden oder ihre Musik nicht mehr gehört wird. Wir wollten niemanden „canceln“. Wir wollten darüber aufklären, was bei den Konzerten passieren kann. Und wer das wissen möchte, der kann das jetzt nachlesen. Mich frustriert es, dass wir mit unserer Recherche in eine Art Kulturkampf geraten.

Aber gibt es nicht die Befürchtung, dass die Bereitschaft der Betroffenen, mit der Presse zu sprechen, sinkt, wenn sie sehen, dass die Berichterstattung keine Konsequenzen hat?

Das kann ich so nicht beantworten, ohne die Vertraulichkeit unserer Gespräche mit den Zeuginnen zu brechen. Nur so viel: Was die Frauen extrem belastet, ist diese Verbrüderung mit Till Lindemann und die Hetze gegen die Frauen, die sich zu Wort gemeldet haben. Shelby Lynn und Kayla Shyx erhielten Morddrohungen, weil sie mit Namen und Gesicht über ihre Erfahrungen gesprochen haben. Und das nehmen unsere Quellen sehr genau wahr. Auf sie wirkt es so, als seien ihre Erfahrungen nichts wert.

Ende August wurden die straf­rechtlichen Ermittlungen gegen Till Lindemann eingestellt. Hat das auch Auswirkungen auf Ihre Berichterstattung?

Das hat erst einmal nichts miteinander zu tun. Es geht dort ums Strafrecht, bei unseren Texten ums Presserecht. Die Einstellung erfolgte, weil der Staatsanwaltschaft nicht genügend Informationen vorlagen, um die Ermittlungen fortzuführen. Strafverfolgung hat aus guten Gründen hohe Hürden. Das heißt aber nicht, dass jegliches Verhalten, das unter dieser Schwelle liegt, okay ist. Auch nicht strafbares Verhalten kann moralisch anstößig und im öffentlichen Interesse sein. Das ist dann Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Dazu können wir mit der Verdachtsberichterstattung beitragen. Und das hat nichts zu tun mit Tugendterror oder moralischer Entrüstung, sondern dass es ein Bewusstsein dafür braucht, wie Macht eingesetzt und missbraucht werden kann.

Seit #MeToo vor sechs Jahren ­aufgekommen ist, gibt es viel mehr Verdachtsberichterstattung über s­exualisierte Gewalt. Gleich­zeitig wird sie durch immer mehr Urteile immer schwieriger. Wie schätzen Sie die Veränderung der letzten Jahre ein?

Ich glaube, dass die Berichterstattung immer besser wird. Es ist gut, dass wir uns öffentlich damit auseinandersetzen, was und wie wir berichten. Also wie wir zu Verdachtsmomenten kommen. Urteil für Urteil bilden sich die Leitplanken der Verdachtsberichterstattung klarer heraus. Daraus lässt sich lernen.

Was zum Beispiel?

Eidesstattliche Versicherungen werden nicht nur normaler, sondern auch der Umgang damit wird geübter. Mittlerweile zitieren wir in unseren Texten direkt daraus, denn sobald wir die Aussagen daraus umformulieren und mit Schleifen versehen, kann uns das als „nicht belegt“ ausgelegt werden. Diese Learnings kommen auch aus vorherigen Prozessen, die teilweise von Kolleginnen und Kollegen anderer Medien geführt wurden. Das alles bedeutet nicht, dass wir nicht weiter um jede Formulierung ringen und uns jedes Mal aufs Neue die Frage stellen, ob es gerechtfertigt ist, diesen Verdacht in der Öffentlichkeit zu äußern – mit allen Konsequenzen, die das für die davon Betroffenen haben kann. Mit dieser Abwägung tun wir uns alles andere als leicht und sie muss in jedem Einzelfall getroffen werden.

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