Die Wahrheit: Mein Leben im endlosen Sommer

Als der Sommer noch endlich war und meist zu kurz, da vertaten auch die meisten Menschen ihr Leben. Und dieses Jahr? War der Sommer gefühlt endlos …

Wir schreiben den 5. Oktober 2023, seit gestern ist der endlose Sommer 2023 nun doch vorbei. Nicht dass er außer seiner Endlosigkeit in Sachen Sonne und schwerer Hitze etwas Besonderes gewesen wäre. Nein, wir haben ihn normal konservativ verbracht.

Wir haben keine politischen Grußworte in neu eröffneten Hotelfoyers gesprochen, keine polnischen Abschiede von politisch nicht korrekten Schaumpartys gefeiert, wir sind nicht über Wasser gegangen und nicht über Wein, sind zu keinen Inseln geschwommen und auch keine Landungsstrände entlang spaziert. Wir haben keinen Kindern in Afrika geholfen, wie wir es vielleicht hätten tun sollen, dafür haben wir uns auch nicht wie andere Leut’ zum Schreiben auf die Seychellen zurückgezogen oder haben die Kindergärtnerin unserer Tochter geküsst, obwohl sie Mundgeruch hatte.

An besonders sonnigen Tagen dachten wir an Berlin, wo es auch nicht kühler war, aber wo es junge Frauen mit behaarten Oberschenkeln gab, die Cyndi-Lauper-T-Shirts und Nasenringe trugen, wie wir uns erinnerten. Damals war ich noch ein Mann. Ein Mann mit Neugier. Inzwischen sind die Leut’ alle uninteressant geworden, was natürlich auch an der Bifokal-Brille liegen könnte, die ich mittlerweile tragen muss und die mich weitsichtig vor Male Gaze schützt, oder zumindest vor den Folgen davon. Wir führen eben ein vertanes Leben, wie es typisch ist für die heutige Zeit.

Aber er war gut, so wie er war, der Sommer 2023. Denn die Seychellen kann man inzwischen auch hierzulande haben, mit nur ein bisschen Fantasie. Was mir ohnehin zupasskommt, denn ich habe immer schon in norditalienischen Städten wohnen wollen, und außerdem beherrsche ich die Sprache meiner Wahlheimat fast wie ein Eingeborener.

Vertanes Leben geht weiter

Gut, meine norditalienische Stadt heißt Vienna, und es ist hier und da enttäuschend, dass die schönen Hügel, die die Stadt umrahmen, nicht wirklich die Alpen sind, sondern nur lahme Ausläufer derselben, aber man kann eben nicht alles haben. Wie gesagt, wir führen ein vertanes Leben.

Hin und wieder fühlen wir uns geparkt wie die viel zu vielen Autos unter den viel zu wenigen und dann noch kahlen Bäumen, und der intensivste Geruch, der uns in die Nase steigt, ist der nach Pneu, der jeden Morgen auf uns im Kinderwagenabstellraum wartet.

Es ist ohnehin erstaunlich, dass die Fossilindustrie nicht schon vor Jahrzehnten Kinder als Zielgruppe entdeckt hat, ich meine, neben der handelsüblichen Auto-Bagger-Raumschiff-Ideologie. Motorisierte Drehräder, Tretroller mit Benzinmotor, was da nicht alles möglich gewesen wäre! Rendite ohne Ende! Chance vertan. Kinder bewegen sich viel, alle halbe Jahre ändert sich das Fahrgestell, aber sie bewegen sich sauber durch eine saubere Umwelt. Sieht man einmal von dem ganzen Plastikirrsinn ab, der so eine Kindheit umgibt.

Aber das war schon damals so. Als der Sommer noch endlich war und meistens viel zu kurz.

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kari

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