Neuer Roman von Maxim Biller: Die Giftmorde der Sicherheitsorgane
Eine Familie aus Odessa wird in Deutschland von der Vergangenheit eingeholt. Maxim Biller variiert in „Mama Odessa“ virtuos seine Familiengeschichte.
Mama Odessa“ nennen die Bewohner ihre Stadt am Schwarzen Meer seit jeher liebevoll. „Mama Odessa“ heißt auch Maxim Billers neuer Roman, der eine weitere Variation der Geschichte ist, die uns der Autor schon oft erzählt hat. Mischa, der Ich-Erzähler, ist ein Schriftsteller. Er entstammt einer Familie, die aus dem Ostblock nach Deutschland auswanderte. Mischas Vater Gena musste und wollte die Sowjetunion verlassen, weil er ein Refusenik, ein glühender Zionist war. Nun ist er, der doch immer nach Israel wollte, in Deutschland hängengeblieben und träumt weiter vom Gelobten Land.
Wie immer gelingt es Maxim Biller, eine meist einfache Story mit so vielen Wendungen und aus so vielen immer wieder neuen, immer anderen Perspektiven zu erzählen, dass einem beim Lesen schwindlig werden kann. Als wäre das nicht genug, zieht Biller in seine Romane aber gern noch eine weitere Ebene ein. Die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers gleicht in mancher Hinsicht derjenigen seines Autors, aber eben nur in mancher. Fakten und Fiktionen vermischen sich und lassen die an Romane gern gestellte Frage, wie viel vom Leben des Autors denn in ihnen stecke, elegant und oft humorvoll ins Leere laufen.
In „Mama Odessa“ lesen wir unter anderem Auszüge aus den Geschichten von Mischas Mutter. Mischa selbst berichtet im Lauf der Geschichte immer wieder über die Romane, die er zu dieser oder jener Zeit gerade schrieb oder schreibt. Einer von ihnen ist ebenjener Roman, den der Leser gerade vor sich hat.
Was Mischa über seine schreibende Mutter schreibt, ist, so könnte man vermuten, ein Hinweis des Autors auf sein eigenes Schreiben, vielleicht sogar auf gelingendes Schreiben überhaupt: „Erfinden konnte meine Mutter beim Schreiben nie – nur ab und zu dabei etwas verschweigen.“ Mögen die Details einer Geschichte auch noch so verfremdet sein, sie erzählt doch zuerst von der Person, die sie aufgeschrieben hat.
Dem Journalismus näher als dem Tagebuch
Nein, das ist nicht „autofiktional“, das ist moderne Literatur, dem Journalismus näher als dem Tagebuch oder der Instagramstory des Normalnarzissten. Doch die Frage, was in einem Biller-Roman authentisch und was ausgedacht ist, ist trotz allem irrelevant – und auch kein Gericht sollte sie zu beantworten versuchen: Im April jährte sich zum zwanzigsten Mal das Publikationsverbot von Billers Roman „Esra“.
Mischas Mutter Aljona realisiert ihre Berufung zur Schriftstellerin erst spät. Ein Buch kann sie noch schreiben, bevor sie sterben muss, weil sie ein unsichtbares, im berüchtigten Ort Schichany in einer „geheimen Giftfabrik der roten Faschisten“ hergestelltes Kontaktgift über ihre Hände aufnahm. KGB-Agenten hatten es auf das Lenkrad des Autos ihres Mannes gesprüht, das sie steuerte.
Mit erzählerischen Elementen wie diesen verbindet Biller die Vergangenheit mit der Gegenwart, haben doch die Nachfolger des KGB dessen Taktiken nicht vergessen. Bis heute gehört der Giftmord zum Arsenal der sogenannten Sicherheitsorgane – „auch so ein typischer Sowjetmenschenausdruck“, wie Mischa festhält.
Biller surft in diesem Text wild durch die Zeitebenen. In der Erzählzeit der Gegenwart ist Mischas Mutter Aljona schon lang von ihrem Mann geschieden. Wer daran schuld war, ist die Frage, die im Zentrum des Romans steht. Wer hat zuerst den anderen betrogen, war es ihr Ehemann Gena mit einer deutschen Volontärin in einem israelischen Kibbutz, in den der er allein gefahren war, oder war sie es? Hat der älteste und, wie sie sagt, falscheste Freund ihres Manns den Stein ins Rollen gebracht? Wer hat wen verraten? Kann es auf diese Frage je eine Antwort geben? Das Böse kommt in den Romanen Billers in die Welt, wenn der Mensch zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist.
Was den Menschen widerfährt, welche Entscheidungen sie treffen, übersteigt dabei oft das Individuelle. Dass Vater Gena, der doch immer nach Israel auswandern wollte, dort eine Deutsche trifft, mit der er in Deutschland eine Affäre haben wird, ist auch eine Metapher für das Verhältnis von Deutschen und Juden.
Von Einwanderern, die ihre Heimat vermissen
„Mama Odessa“ ist eine Geschichte von Einwanderern, die ihre Heimat vermissen, wie die Mutter, oder sich anderswohin sehnen, wie der Vater. „Wir hätten in Odessa bleiben sollen“, sagt die Mutter, „dort ginge es dir wirklich viel besser.“ Ihr Sohn kann sich an seine Kindheit im alten Land erst erinnern, als die Mutter im Sterben liegt. Vorher gelingt ihm das nicht: „Da war nichts, gar nichts. Meine Erinnerungen bestanden fast nur aus alten Fotos und den Bildern, die mein Großvater nach ihnen gemalt hatte.“
Seine eigenen Erinnerungen sind blass, aber er kennt die Geschichten der Erwachsenen. „Alles fing am 21. Oktober 1941 an, als die Deutschen und Rumänen jeden Juden von Odessa, den sie finden konnten, in die verlassenen Baracken des alten Munitionslagers am Tolbuchinplatz hineintrieben, die Baracken mit Benzin übergossen und anzündeten. Einer der wenigen, der das überlebte, war ausgerechnet mein melancholischer armenischer Großvater, den die neuen Herren bei ihrer Treibjagd auch eingesammelt hatten, weil sie ihn für einen Juden hielten.“
Den „neuen Herren“ gelang es nicht, 25.000 Menschen zu erschießen, wie sie es überall in den besetzten Gebieten der Sowjetunion machten, also zündeten sie sie an. In der Sowjetunion, die unter Stalin eine antisemitische Kampagne erlebte, wurde der Charakter dieses Verbrechens verfälscht, indem nur von getöteten „Sowjetbürgern“ gesprochen wurde, die doch deswegen ermordet wurden, weil sie Juden waren. Das aber war laut Mischa nichts Besonderes in einem Land, „in dem man keine Juden mehr haben wollte“.
Wie jeder gute Roman ist „Mama Odessa“ auch Literatur über Literatur. Die Liebe zur russischen Sprache ist ihm eingeschrieben. Mutter Aljona verehrt Anna Achmatowa, auch der singende Dichter Wladimir Wyssozki hat seinen Auftritt.
Sohn Mischa hat Heinrich Böll gelesen, unter anderem dessen Geschichte „Damals in Odessa“. Deren Held ist ein trauriger deutscher Soldat, der sich mit seinen Freunden in jenem Viertel betrinkt, in dem Mischas Großvater lebte. Am nächsten Tag muss er an die Front und stirbt. Mischa hält sie für eine „unglaublich gute Geschichte“, allerdings gibt es ein Problem: „Dass in der traurigen Böll-Geschichte mit keinem Wort die Leute erwähnt werden, die einmal in diesem Viertel gelebt haben und ein paar Monate vorher von anderen traurigen deutschen Soldaten erschossen oder verbrannt wurden.“
Opake Geschichten
Billers Geschichten sind opak, schwer durchschaubar und wie die Werke aller großen Moralisten radikal unmoralisch. Das Handeln ihrer Charaktere wird zugleich verständlich gemacht und bleibt doch rätselhaft, so wie wir unsere Gefühle nur selten im Griff haben, gerade wenn sie stark sind. Freud hat behauptet, wir seien nicht Herr im eigenen Haus. Billers Romane spielen immer wieder durch, was das für den Einzelnen bedeutet. Starke Gefühle neigen dazu, andere hervorzubringen, und oft sind diese verschiedenen Gefühle nicht in Einklang zu bringen.
Eben glaubte man also, einen der Protagonisten eines Biller-Romans verstanden zu haben, schon zeigt er eine neue Facette. Diese Romane sind so verwirrend wie das Leben selbst, das sich dem menschlichen Wunsch nach Sinn und Folgerichtigkeit und dem Streben danach, im Einklang mit sich selbst zu sein, gerne einen Strich durch die Rechnung macht.
Maxim Biller: „Mama Odessa“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 240 Seiten, 24 Euro
Die Menschen, die in Biller-Romanen leben, hassen diejenigen, die sie lieben, und begehren diejenigen, die sie hassen. Sie sind so kompliziert und widersprüchlich, wie sich manche real existierende Exemplare der Gattung es selbst nicht zu sein erlauben. Das wiederum geht uns nichts an, solange sie nicht auf die Idee kommen, moralisierende Romane zu schreiben, was leider nicht selten vorkommt. Billers Romane dagegen sind wahr, insofern sie von den Menschen und der Geschichte handeln. Wahre Bücher gibt es so viele nicht.
„Mama Odessa“ wirft ständig neue Fragen auf. Die Frage etwa, warum sich die Personen dieser Story so verhalten, wie sie es tun, führt unweigerlich zu der Frage, wie ihr Verhalten zu bewerten ist, was wiederum zu einem Zwiegespräch des Lesers mit sich selbst führt. Ist dieser scheinbare Verrat wirklich ein Verrat, wie würde ich darauf reagieren, und überhaupt, warum verhalte ich selbst mich so, wie ich es tue? Die Romane Billers legt man nicht deswegen ungern aus der Hand, weil man sich in ihrer Welt so schön verlieren kann, sondern weil einen ganz im Gegenteil aus den Spiegeln seiner Labyrinthe immer wieder das eigene Selbst anschaut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid