„krieg und frieden“: ein tagebuch
: Verwandter im Hochsicherheits­gefängnis

Aus Warschau Alexander Moisseenko

Plac Konstytucji 6 in Warschau: Dort, wo sich 1989 zu Zeiten der Volksrepublik Polen Dissidenten getroffen haben, versammeln sich heute Aktivisten aus Belarus. Ich bin häufig hier. Sehr gut kann ich mich daran erinnern, wie in diesem Gebäude vor zwei Jahren der „Belarusian Youth Hub“ eröffnet worden ist, ein beliebter Sammelplatz für die belarussische Diaspora und Demokratiebewegung.

Heute bleibe ich an einem Infostand von „Dissidentby“ stehen, einer Initiative, welche unter anderem Spenden für politische Gefangene in Belarus sammelt. Neben Aufklebern und Flyern liegen auch T-Shirts auf dem Tisch. Bei näherem Hinblick fällt mir eines davon besonders auf: „Für eure und unsere Freiheit“ steht darauf. Über dem Spruch sind vier lächelnde Männer zu sehen. Darunter auch mein Großcousin Siarhei Ramanau, der eine 20-jährige Haftstrafe in einem belarussischen Hochsicherheitsgefängnis absitzt.

Ich selbst habe erst vor einem Jahr durch Verwandte erfahren, dass ich einen Großcousin habe, der wegen „Terrorismus“ verurteilt worden ist. Und das, obwohl über das Urteil landesweit berichtet worden ist. Ein Jahr zuvor habe ich Siarhei auf einer Veranstaltung in Warschau eine Solidaritäts-Postkarte ins Gefängnis geschrieben. Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass ich einem Familienangehörigen schreibe.

Siarhei hatte schon immer einen großen Gerechtigkeitssinn, so erzählt es mir einer seiner früheren Weggefährten in Warschau. Aus diesem Grund konnte er auch die brutale Polizeigewalt nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 nicht tatenlos hinnehmen.

Zusammen mit drei weiteren Partisanen beschließt er, Widerstand gegen den repressiven Machtapparat zu leisten. Im Oktober 2020 werden nachts vor der örtlichen Staatsanwaltschaft in Salihorsk vier Autos sowie das Gebäude des Staatlichen Ausschusses für gerichtliche Untersuchungen in Brand gesteckt. Es wird ein Strafverfahren wegen „Hooliganismus“ eingeleitet.

Als die vier Männer kurz danach festgenommen werden, wird Siarhei bei seiner Verhaftung schwer geschlagen. Um die Folter zu beenden, schneidet er sich mit einer Rasierklinge in die Hände. Vor Gericht wird das Strafverfahren plötzlich umgewandelt: Die Männer sind nicht mehr wegen „Hooliganismus“, sondern wegen „Terrorismus“ angeklagt. Siarhei erhält 20 Jahre Haft für ein paar beschädigte Autos. Nicht einmal für Tötungsdelikte bekommen Menschen in Belarus derart drakonische Strafen. Für Menschenrechtsorganisationen sind Siarhei und seine Mitangeklagten deswegen politische Gefangene.

Persönlich kennenlernen durfte ich Siarhei bislang leider nicht. Aber ich glaube daran, dass er gemeinsam mit den anderen rund 1.750 politischen Gefangenen vorzeitig freigelassen wird. Irgendwann wird jeder in Belarus begriffen haben, wer die wahren Terroristen sind.

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung. Das Tagebuch ist online bei taz.de auf Russisch und Deutsch zu finden.