Erdrutsche in Sierra Leones Hauptstadt: Auf Schlamm gebaut
In Freetown starben vor sechs Jahren über 1.100 Menschen bei Erdrutschen – ausgelöst vom maßlosen Stadtwachstum. Seitdem hat sich kaum etwas getan.
Wasser- und Schlammmassen fraßen sich an jenem Montagmorgen bei anhaltendem Starkregen durch den Stadtteil Kamayama und ließen diese Schlucht zurück. Mehr als 1.100 Menschen starben und über 3.000 wurden obdachlos. Auch Mister Josephs Familie starb.
Dass er selbst überlebte, verdankt er einem Krankenhausaufenthalt in der Stadt Makeni im Norden des Landes. An jenem Tag rief seine Schwester ihn an und berichtete von der Katastrophe, den Vermissten, den Leichen, vor allem den unvorstellbaren Schlammmassen, die den Hügel heruntergerollt waren. Zuvor hatte er überlegt, ganz nach Makeni zu ziehen. „Doch nach dem Gespräch wusste ich: Ich muss sofort zurück.“
In seiner unmittelbaren Nachbarschaft wurden später 43 Leichen gezählt. Mister Joseph hat nicht nur seine Kernfamilie verloren, sondern seitdem auch keine eigene Unterkunft mehr. „Ich bin zum Caretaker geworden“, sagt er. Es ist die geschönte Umschreibung dafür, dass er in halbfertigen Häusern übernachtet und sie so bewacht.
Klimawandel sorgt für unvorhersehbare Regenfälle
Knapp sechs Jahre ist das Unglück her. Doch in Freetown, mit seinen Hügeln, die einst komplett von Regenwald bedeckt waren, den langen Sandstränden und engen Straßen, die dem Verkehr längst nicht mehr gewachsen sind, hat es sich tief in das kollektive Gedächtnis gegraben. Bis heute erinnert die komplett entwaldete, hellbraune Fläche, die vom Grün der Bäume umgeben ist, schon aus der Ferne wie ein Mahnmal daran.
Auch in den Folgejahren starben bei kleineren Erdrutschen zahlreiche Menschen. Jetzt, zu Beginn der Regenzeit, steigt die Angst, dass sich eine solche Katastrophe wiederholen könnte. Die höchste Niederschlagsmenge wird für August erwartet.
Der Klimawandel, so heißt es oft, sorgt für sintflutartige Regenfälle mit unvorhersehbaren Ausmaßen. Von Überschwemmungen betroffen sind in Westafrika nicht nur Küstenorte, sondern auch Städte im Süden der eigentlich trockenen Sahelzone wie Ouagadougou in Burkina Faso oder Gegenden entlang von Flüssen. In Nigeria mussten vergangenes Jahr mehr als 1,4 Millionen Menschen ihre Häuser verlassen, als das Land die schlimmsten Überschwemmungen seit 2012 verzeichnete und Hunderte starben.
Vieles ist menschengemacht, sagt James Sillah. Der Sierraleoner ist Umweltaktivist, lebt ebenfalls in Kamayama und versorgte 2017 zahlreiche Obdachlose. „Schon vor dem Unglück haben wir gewarnt: Die Abholzung der Regenwälder ist desaströs.“ Wiederaufforstungsprojekte seien dringend notwendig, sagt er und zeigt auf eine Reihe junger, neu gepflanzter Bäume.
Das Problem: der große Zuzug
Auch müsse dringend etwas gegen das sogenannte sand mining unternommen werden. Das Abtragen von Sand, um ihn an Baufirmen zur Zementherstellung zu verkaufen, fand zunächst entlang der Strände statt. Längst würden aber auch in diesem Viertel junge Menschen Sand an Baufirmen verkaufen, um überhaupt etwas zu verdienen. „Grund dafür sind mangelnde Arbeitsplätze“, so Sillah. Sierra Leones nationale Jugendkommission schätzt, dass etwa 70 Prozent der jungen Erwachsenen arbeitslos oder unterbeschäftigt seien. Die Rede ist von 800.000 Personen.
Ein Problem ist allerdings auch der massive Zuzug nach Freetown seit dem sierraleonischen Bürgerkrieg. Der amtierende Präsident Julius Maada Bio, der sich gerade zur Wiederwahl stellt, war in den Kriegszeiten kurzzeitig Staatschef an der Spitze einer Militärjunta, die 1996 die Macht an gewählte Zivilisten abgab.
Aber der Krieg endete erst 2002. Rund 2,5 Millionen Menschen wurden in den Jahren des Krieges, als Milizen und Rebellen Zehntausende Menschen töteten, aus ihren Dörfern vertrieben, suchten zunächst Schutz in Freetown und blieben dann dort. Neue Wohnviertel aus Hütten entstanden entlang der steilen Hügel, wo zuvor Bäume wuchsen – allen Warnungen zum Trotz.
Vor allem für Menschen mit geringem Einkommen seien Unterkünfte knapp, sagt Mabinty Magdalene Kamara. Sie arbeitet als Reporterin bei der Tageszeitung Politico und schreibt über Landrechtsfragen. Die Obdachlosigkeit würde tagsüber kaum auffallen. „Nach 22 Uhr suchen zahlreiche Menschen an den Hauptstraßen einen Platz zum Schlafen. Die Stadt ist seit 20 Jahren überbevölkert.“
Das führe zu zahlreichen Konflikten. „Zugezogene haben Flächen besetzt, um Gärten zu errichten.“ Auch würden sich mitunter mehrere Personen um Grundstücke streiten. Auf Schildern wird vor Häusern wie unbebauten Flächen deshalb gewarnt: „Dieses Land steht nicht zum Verkauf.“ Denn Betrüger:innen würden mithilfe von gefälschten Papieren versuchen, für Land, das ihnen nicht gehört, Geld zu kassieren.
Taxifahrer sollen sich bei Landlotterie bewerben
Die sogenannte Mittelschicht finde zwar Wohnungen. Doch die Miete, die für ein Jahr im Voraus bezahlt werden muss, wird in US-Dollar verlangt. Die Inflationsrate lag in Sierra Leone vergangenes Jahr bei gut 27 Prozent.
Die Regierung hat deshalb im Jahr 2022 eine Landlotterie entwickelt. In Abständen werden bestimmte Berufsgruppen je nach Einkommen aufgerufen, sich zu bewerben. Zuletzt waren es Taxifahrer. Mabinty Magdalene Kamara hatte mehrfach darüber berichtet, bis Kolleg:innen sie aufforderten, mitzumachen. „Sie sagten: Das dauert bloß ein paar Minuten. Ich war allerdings skeptisch.“
Als die Auslosung für Journalist:innen, Lehrer:innen, medizinisches Personal und Regierungsangestellte erfolgte, arbeitete sie gerade in ihrer Redaktion und verfolgte die Bekanntgabe der Namen beiläufig. Plötzlich wurde ihrer aufgerufen. „Und plötzlich gehörten mir zwei Baugrundstücke. Ich war eine von 500.“
Kamaras Fläche liegt in Bureh südlich von Freetown, wo eine neue Stadt entstehen soll. Der Gewinn ist allerdings mit zahlreichen Verpflichtungen verbunden. In den ersten drei Jahren muss eine jährliche Pacht in Höhe von 150 US-Dollar gezahlt werden. Gelingt das, erhält sie die Papiere und kann die Fläche weiterverkaufen oder selbst bauen. Das wird trotz aller Freude die nächste Herausforderung: Bauen muss man sich leisten können. „Durch die hohe Inflation kostet ein Sack Zement mittlerweile mehr als 12 US-Dollar.“
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