Weshalb Polizeigewalt oft ungeklärt bleibt

Noch immer gibt es kaum Zahlen zur Polizeigewalt. Ein Team um den Kriminologen Tobias Singelnstein legt nun einen Bericht vor – und zeigt, wie folgenlos diese zumeist bleibt

Besonders häufig: Polizeigewalt bei Demonstrationen und bei Fußballspielen Foto: Imago

Von Konrad Litschko

Es bleibt ein Feld, das von erhitzten Debatten bestimmt wird – und von wenig Empirie: Gewalt von Polizist:innen. Nun legte ein unabhängiges For­sche­r:in­nen­team um den Frankfurter Kriminologen Tobias Singelnstein umfassende Zahlen dazu vor. Demnach herrscht weiterhin ein großes Dunkelfeld bei Polizeigewalt. Und die strafrechtlichen Konsequenzen bleiben minimal.

Bereits seit 2018 untersucht das Team um Singelnstein in einem Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“. Zweimal wurden dazu bereits Zwischenberichte vorgelegt. Nun folgen die finalen Befunde in einem 500 Seiten dicken Buch: „Gewalt im Amt“.

Basis ist eine Onlinebefragung von mehr als 3.300 Personen, die angaben, Polizeigewalt erfahren zu haben. Dazu kamen 60 qualitative Interviews mit Polizist:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen, Rechts­an­wäl­t:in­nen und Opferberatungsstellen. Die Studie definiert Polizeigewalt als Handlungen, „die aus der Perspektive der sie bewertenden Personen die Grenzen des Akzeptablen überschritten“ – was nicht zwingend rechtswidrige Gewalt bedeute.

Die meisten Betroffenen – 55 Prozent – berichteten, Polizeigewalt bei Demonstrationen erlebt zu haben, ein Viertel bei Fußballspielen. Die anderen Fälle fanden etwa bei Personen- oder Verkehrskontrollen statt. Am häufigsten wurden nach eigener Auskunft junge Männer Opfer von Polizeigewalt – im Schnitt 25,9 Jahre alt. Laut Studie unterliegen marginalisierte Gruppen wie „rassifizierte Personen“ oder Wohnungslose einem „besonderen Diskriminierungsrisiko“. 16 Prozent der befragten Betroffenen hatten Migrationsgeschichte.

19 Prozent aller Betroffenen berichteten von schweren Verletzungen wie Knochenbrüchen. Bei den psychischen Folgen wurden „Wut und Angst vor der Polizei“ benannt oder das Meiden bestimmter Orte nach dem Vorfall.

Ein knappes Fünftel der Betroffenen gab an, dass das Nichtbefolgen von Anweisungen zur Eskalation geführt habe – teils habe es sich dabei um bloßes Nachfragen nach einem Dienstausweis oder nach der Rechtsgrundlage der Maßnahme gehandelt. Viele Betroffene beklagten, für sie seien die Polizeimaßnahmen nicht transparent und nachvollziehbar gewesen, bevor es zur Gewalt kam. Befragte Po­li­zis­t:in­nen erklärten ihre Gewaltanwendung dagegen vielfach damit, einen Kontrollverlust vermeiden zu wollen. Auch Zeitdruck oder Überforderung durch Personalmangel seien Gründe gewesen.

Die Studie spricht von unterschiedlichen Maßstäben für die Gewalt. Für die Betroffenen sei vor allem die Legitimität der Gewalt zentral. Nur ein Fünftel der Befragten kritisierte den ursprünglichen Polizeieinsatz an sich. Für die Polizei dagegen zählten bei der Gewaltanwendung – die ihnen in bestimmten Situationen als „unmittelbarer Zwang“ erlaubt ist – auch die Effizienz ihrer Maßnahmen.

Der Großteil der Fälle von Polizeigewalt bleibt derweil offenbar öffentlich unbekannt. So gab es laut Statistischem Bundesamt 2021 insgesamt 2.790 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen rechtswidriger Gewaltanwendung. Nur in zwei Prozent der Fälle erfolgten dazu auch Anzeigen. Zum Vergleich: Durchschnittlich wird bei 22 Prozent aller Ermittlungsverfahren Anklage erhoben. In 27 Fällen von Körperverletzungen im Amt gab es schließlich Verurteilungen, 25 endeten mit Freisprüchen – beim Rest wurden die Verfahren eingestellt, mit oder ohne Geldstrafe.

Bei 2.790 Verfahren gegen Polizeibeamte gab es nur 27 Verurteilungen

Gründe für die geringe strafrechtliche Aufklärung laut Studie: Vielfach könnten übergriffige Po­li­zis­t:in­nen nicht identifiziert werden. Auch würden Po­li­zis­t:in­nen sehr selten ihre Kol­le­g:in­nen beschuldigen und vor Gericht als besonders glaubwürdig gelten. Wegen der alltäglichen Kooperation zwischen Justiz und Polizei herrsche zudem ein „institutionelles Näheverhältnis“, das einen unvoreingenommenen Blick erschwere.

Auch von den befragten Betroffenen erklärten nur 14 Prozent, dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe. Nur knapp jede zehnte betroffene Person stellte eine Anzeige. Die anderen verwiesen auf mangelnde Erfolgsaussichten, fehlende Beweismittel oder die Sorge vor einer Gegenanzeige. Auf Polizeiseite konstatiert die Studie hohe Hürden, dass Polizeibeamte Gewalt von Kol­le­g:in­nen zur Anzeige bringen. Die For­sche­r:in­nen gehen deshalb von einem „erheblichen Dunkelfeld“ aus.

Und noch ein Problem identifiziert die Studie: Nach den Gewaltvorfällen bestimme die Polizei, der allgemein eine hohe Glaubwürdigkeit attestiert wird, über Pressemeldungen die öffentliche Deutung. Polizeigewalt werde damit „strukturell einer Infragestellung entzogen“ – und Betroffene der Gewalt kämen kaum zu ihrem Recht.