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Ein Sieg mit Abstrichen

Die Regierungspartei AKP verteidigtihre Mehrheit im Parlament. Präsi­dent Erdoğan muss aber in die Stichwahl

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

„Erdoğan hat verloren“ titelte am Montag die oppositionelle türkische Tageszeitung Cumhuriyet. Das dürfte Präsident Recep Tayyip Erdoğan selbst nicht so sehen, obwohl er tatsächlich im Vergleich zur letzten Präsidentschaftswahl 2018 deutlich weniger Stimmen für sich gewinnen konnte. Dennoch: Bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag hat zwar keiner der beiden Kandidaten im ersten Wahlgang gewonnen, Erdoğan liegt aber mit 49,5 Prozent vor seinem Herausforderer vom oppositionellen Parteienbündnis, Kemal Kılıçdaroğlu, der auf 44,9 Prozent kam. Das teilte die Wahlkommission am Montagnachmittag mit. 35.800 Stimmen waren da noch nicht ausgezählt. Mit Sicherheit wird es aber am 28. Mai das erste Mal in der Türkei eine Stichwahl zwischen einem Präsidenten und dessen Herausforderer geben.

Der von der Opposition erhobene Vorwurf der Wahlmanipulation wurde bis Montagnachmittag nicht ausgeräumt, allerdings auch nicht weiter konkretisiert. Spätestens wenn die Opposition bis Dienstagmittag – das ist der letzte Zeitpunkt – offiziell Einspruch gegen das Wahlergebnis erhebt, werden sie genaue Angaben machen müssen, wo und wie Stimmen verschwunden sein sollen. Neben der Opposition hat auch die OSZE-Wahlbeobachtermission die Auszählung der Stimmen als insgesamt intransparent bezeichnet. Dennoch gingen sowohl das Erdoğan-Lager als auch die Allianz von Kılıçdaroğlu schon in der Wahlnacht davon aus, dass es eine Stichwahl geben würde.

Der dritte Kandidat, der Ultranationalist Sinan Oğan, landete mit 5,2 Prozent weit hinter den anderen beiden Kandidaten. Oğan wollte sich am Montag nicht festlegen, ob er eine Wahlempfehlung für die Stichwahl abgeben wird. Sein Anliegen ist vor allem, dass kurdische Parteien keinen Einfluss auf die Politik in der Türkei bekommen. Um diesem Anliegen Nachdruck zu verleihen, hatte er sich vor einiger Zeit aus der rechtsradikalen MHP, dem Koalitionspartner Erdoğans, verabschiedet. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass die Opposition mit Stimmen aus Oğans Wählerschaft rechnen kann.

Bei der Neuwahl des Parlaments, die ebenfalls am Sonntag stattfand, hat Erdoğans Bündnis offenbar seine absolute Mehrheit verteidigen können. Ein offizielles Ergebnis lag zwar bis Montagnachmittag nicht vor, doch nach den zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Zahlen kam Erdoğans AKP auf 35,5 Prozent, die CHP unter Kılıçdaroğlu auf 25,4 Prozent. Die beiden nächstgrößeren Parteien, die rechtsradikale MHP, die mit Erdoğan koaliert, und die moderatere rechte İyi-Partei, die im Oppositionsbündnis zweitstärkste Kraft ist, kamen auf jeweils rund 10 Prozent. Die Yeşil-Sol-Liste (YSP), Grün-Linke, unter deren Label die kurdische HDP gemeinsam mit kleineren linken Parteien antrat, kam auf rund 9 Prozent. Zählt man die kleinen Parteien mit, so hat Erdoğans Lager seine absolute Mehrheit im Parlament gegenüber dem oppositionellen Parteienblock knapp verteidigen können.

Auch in dem Erdbebengebiet hat Erdoğan eine teils absurd wirkende hohe Mehrheit gewinnen können. Obwohl es in den ersten Tagen nach dem Beben vom 6. Februar viel Kritik an der Reaktion der Regierung gegeben hatte, konnte Erdoğan mit finanziellen Versprechen offenbar doch eine Mehrheit überzeugen, dass es nur mit ihm gelingen würde, die Region wiederaufzubauen.

Insgesamt zeigt die Wahlkarte der Türkei an, dass sich die Spaltung des Landes auch geografisch verfestigt. Kılıçdaroğlu hat die gesamte Mittelmeer- und Ägäisküste gewonnen, dazu den Großraum Istanbul sowie den Großraum Ankara. Weil die HDP bei der Präsidentschaftswahl dazu aufgerufen hatte, Kılıçdaroğlu zu wählen, kommt auch noch der gesamte Südosten dazu. Erdoğan dagegen dominiert ganz Zentral- und Nordostanatolien sowie die gesamte Schwarzmeerküste.

Mit seiner Parlamentsmehrheit wird Erdoğan nun darauf verweisen, dass es bei der Stichwahl um die Präsidentschaft nur mit ihm Stabilität geben werde, weil sich bei einem Sieg Kılıçdaroğlus der Präsident und das Parlament gegenseitig blockieren könnten. Eine solche Konstellation wäre in der Türkei tatsächlich ein Novum. Ob es wirklich zu Blockaden kommen würde, ist daher nicht absehbar.

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