Wenn das Gehirn anders tickt

ADHS wurde vor allem bei erwachsenen Frauen lange nicht vermutet und entsprechend spät oder gar nicht diagnostiziert. Die Spezialsprechstunden sind überlaufen und die Forschung holt erst langsam auf

Eine ADHS-Diagnose als Erwachsene kann für Betroffene auch Erleichterung bringen. „Rückblickend erklären sich viele Schwierigkeiten, das führt zu einer immensen Entlastung“, sagt Felix Betzler von der Berliner  Charité Foto: Fo­to: ­Mikesch/plainpicture

Von Sabine Seifert

Die Buchpremiere in Köln ist Wochen vorher ausgebucht. Der Veranstaltungsort in einer Stadtbibliothek klingt unspektakulär, aber jüngere Le­se­r*in­nen kennen die Autorin durch das Format „Mädelsabende“ auf Instagram. Dort hat sie auch eine Chatgruppe ins Leben gerufen, die heißt wie das Buch, das sie an diesem Abend vorstellt: „Kirmes im Kopf. Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe.

Angelina Boerger, die Autorin, sitzt auf dem Podium und strahlt. Stolz, ein Projekt durchgezogen zu haben: von ihrer Erfahrung, ihrem Wissen und ihrer eigene Leidensgeschichte zum Thema ADHS zu erzählen. Etwas, das man beginnt, auch zu Ende zu bringen, das ist keine Selbstverständlichkeit für eine Person, die die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS hat – kommt Angelina Boerger doch schon in ihrer Wohnung immer wieder von ihren Plänen ab, wie sie erzählt. Die Autorin liest Abschnitte, viele Begriffe fallen. Impulsivität. Desorganisiertheit. Motorische Ungeschicklichkeit. Hohe Emotionalität. Hyperfokus. Sätze nicht zu Ende sprechen. Andere nicht ausreden lassen. Gedankenkarussell. Kirmes im Kopf.

Nicht alle Begriffe passen auf den ersten Blick zusammen, aber psychische Beeinträchtigungen sind komplexe Angelegenheiten. Vor allem junge Frauen sitzen im Publikum, manche in Begleitung. Als die Diskussion eröffnet wird, kommen mehr Bekenntnisse als Fragen: Ich habe ADHS, ich könnte es haben, ich warte auf einen Termin, ich warte auf Resultate, ich leide, ich bin froh zu erfahren, dass es anderen auch so geht. Es wird ein Abend des Empowerments.

Boerger signiert geduldig die bald ausverkauften Exemplare vom Büchertisch, für kurze Zeit stand das Buch auf der Spiegel-Bestsellerliste. Ist es nur ein Hype, eine sich gegenseitig bestärkende Blase oder ein Leiden, das sich endlich Aufmerksamkeit verschafft?

Fest steht, viele Betroffene leiden. Sie ecken an, kriegen ihr Leben nicht gut auf die Reihe, fallen – eher selten – ganz aus dem System. ADHS ist nicht heilbar, aber es ist behandelbar. Ab und zu impulsiv oder unkonzentriert ist jeder. ADHS aber bestimmt und beeinträchtigt den Alltag. Die Symptomatik kann sich im Lauf eines Lebens abschwächen und es lassen sich Strategien erlernen. Menschen mit ADHS sind spontan, kreativ, emotional, gesellig.

ADHS galt bis zu den 1990er Jahren als Verhaltens- oder Entwicklungsstörung von Kindern. Heute haben etwa 5 Prozent aller Kinder ADHS. Auf ein Mädchen kommen drei bis vier Jungen. Inzwischen weiß man, dass ADHS – nach konservativen Schätzungen – bei 50 Prozent der betroffenen Erwachsenen bestehen bleibt. Man geht von etwa 2,8 Prozent betroffenen Erwachsenen aus. Felix Betzler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, der seit 2019 eine ADHS-Spezialsprechstunde leitet, hält die Zahl für „unterdiagnostiziert“. Warum, erklärt er bei einem Besuch auf dem Charité-Campus, der in einem Backsteingebäude mit der alten Inschrift „Nervenklinik“ untergebracht ist. „Viele betroffene Erwachsene wissen möglicherweise gar nichts davon“, sagt Betzler. „Als sie Kinder waren, war darüber sowohl in der Gesellschaft als auch bei Ärz­t:in­nen wenig bekannt.“

Erst seit den 1990ern wird ADHS in Deutschland ernst genommen

In Deutschland begann man erst in den 1990ern das Phänomen ADHS wahr- und ernst zu nehmen, vornehmlich bei Jungen. Viele Frauen fielen in der Kindheit durchs Aufmerksamkeitsraster, weil Mädchen als weniger verhaltensauffällig gelten und sozial angepasster agieren. „Unsere diagnostischen Skalen, aber auch unser diagnostisches Bewusstsein ist zu sehr auf den männlichen Phänotyp geeicht“, stellt Felix Betzler fest. „Es gibt auch eine weibliche Aufmerksamkeitsdefizitstörung, eine ADS, ohne Hyperaktivität, die sich ein bisschen anders darstellt.“ Tatsächlich nähert sich der Frauenanteil der von ADHS-Betroffenen im Erwachsenenalter an.

Beide Bezeichnungen, ADS und ADHS, sind gebräuchlich. Drei primäre Erscheinungsformen unterscheidet die Wissenschaft derzeit bei ADHS: hyperaktiv-impulsiv, aufmerksamkeitsgestört oder eine Kombination aus beidem. Unaufmerksamkeit geht nicht immer einher mit Hyperaktivität, auch kann sich eine äußere Unruhe im Kindesalter später nach innen richten. „Das deutsche Diagnosesystem differenziert anders als das US-amerikanische leider nicht zwischen den beiden Typen, da müssen wir erst hin“, sagt Betzler.

ADHS gilt als neurobiologische Störung, es gibt festgelegte Diagnoseverfahren und -kriterien mit entsprechenden Skalen der Beeinträchtigung, aber keine direkte Nachweisbarkeit durch ärztlich diagnostizierte Biomarker oder ein MRT. Unterschiede im Gehirn lassen sich per Bildgebungsverfahren allerdings erkennen. „Sie reichen aber für eine Diagnose nicht aus“, sagt Felix Betzler.

Die Diagnostik umfasst immer ein ausführliches Erstgespräch und mindestens ein weiteres Treffen. Durch ein MRT und Labortests werden andere Ursachen ausgeschlossen. Es finden auch Gespräche mit Bezugspersonen aus der Kindheit wie Eltern, Geschwistern oder Lehrern statt, Schulzeugnisse werden ausgewertet. Der Vergangenheit auf die Spur zu kommen, sei manchmal wie Detektivarbeit, sagt Betzler. „Zu den Diagnosekriterien gehört, dass die Symptome schon in der Schulzeit bestanden haben und die Beeinträchtigungen in mehr als einem Lebensbereich auftreten.“

ADHS geht oft einher mit psychischen Erkrankungen. Angststörungen, depressive oder andere affektive Störungen zählt Betzler auf, aber auch Suchtverhalten. Das Risiko, depressiv zu werden, ist bei Menschen mit ADHS um das Fünffache erhöht.

Bis zu 20 Personen kommen pro Woche zu Betzlers Spezialsprechstunde in der Charité, die Warteliste ist geschlossen. Neben den Unikliniken gibt es bundesweit nur wenige psychiatrische oder psychologische Praxen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Auch in der ADHS-Ambulanz der Uniklinik Bonn ist erst 2024 wieder ein Termin zu bekommen.

„Es ist furchtbar“, sagt Alexandra Philipsen, die seit 2018 das Institut für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Bonn leitet, sie schüttelt entschuldigend den Kopf. Alle Spezialambulanzen hätten dieses Problem. „Ich spreche bei ADHS statt von Störung lieber von einem Syndrom“, sagt sie, also dem Auftreten mehrerer charakteristischer Symptome. „Ich persönlich finde das Wort Störung etwas verstörend.“

ADHS ist eine neurobiologische Besonderheit, deren Ursache bis heute nicht gänzlich geklärt ist. Auch wenn eine starke genetische Verursachung bekannt ist, gibt es nicht das ADHS-Gen. Zumindest ist ein solches bisher nicht bekannt. „Wir wissen noch längst nicht alles“, sagt Philipsen, die in Bonn bereits die dritte Spezialambulanz ihres Berufslebens mit aufgebaut hat. „Aber wir wissen, dass die Medikation mit Psychostimulanzien wirkt. Und über ihren Wirkmechanismus sind wir auf die Idee gekommen, was die Ursache für ADHS sein könnte: dass zu wenig Dopamin und Noradrenalin als Botenstoffe zwischen zwei Nervenzellen zur Verfügung stehen.“

„Es hat Vorteile, die ADHS nicht nur defizitär zu sehen“

Felix Betzler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin

Die verschiedenen Hirnregionen sind über neuronale Schaltkreise vernetzt. Die Nervenzellen, auch Neuronen genannt, produzieren selbst die Botenstoffe, die sogenannten Neurotransmitter, die der Reizverarbeitung und Informationsübermittlung von Zelle zu Zelle dienen. Bei ADHS ist diese Informationsübermittlung nicht im Gleichgewicht, der synaptische Spalt vor allem mit Dopamin unterversorgt.

Die Professorin vergleicht das Gehirn mit einem Orchester, „bei dem es beim Zusammenspiel nicht so recht funktioniert“. Das Bild fällt Philipsen beim Gespräch ein. Im Orchester wisse jedes Instrument, wann es an der Reihe ist, wann es laut und wann es leise zu spielen hat. Das erfordert höchste Konzentration. „Aus der funktionellen Bildgebung wissen wir, dass bei ADHS­le­r:in­nen diese Nervenzellen nicht ausreichend aktiviert werden. Es fällt ihnen schwer, punktgenau zu agieren. Auf der anderen Seite gibt es auch Hirnareale, die aktiv sind, wenn man nichts tut. Normalerweise werden diese Netzwerke dann deaktiviert. Was passiert bei ADHS? Die klimpern trotzdem.“ Je intensiver sie sich damit beschäftige, desto mehr glaube sie, dass es ein Problem der koordinierten Aktivierung und Deaktivierung sei.

Betroffene und Forschende sprechen deswegen von Neurodiversität. „Es hat Vorteile, die ADHS nicht nur defizitär zu sehen“, sagt Felix Betzler von der Charité Berlin. „Dass man sagt: Wir sind anders, aber nicht krank.“ ADHS hat eine starke genetische Disposition, die Vererbbarkeit liegt bei etwa 70 bis 80 Prozent, schätzt Alexandra Philipsen. „Aber ADHS ist nicht monogenetisch, es müssen verschiedene Risiko- und Umweltfaktoren zusammenkommen.“ Dazu gehören beispielsweise Frühgeburtlichkeit und ein niedriges Geburtsgewicht.

Hat es positive Folgen für Betroffene, wenn sie eine Diagnose bekommen? Alexandra Philipsen: „Die Aufklärung hilft dem Betreffenden und seinem Umfeld. Es gibt immer noch viele Menschen, die gar nicht wissen, was mit ihnen los ist.“ Ihr Berliner Kollege Felix Betzler: „Rückblickend erklären sich viele Schwierigkeiten, das führt zu einer immensen Entlastung.“ Die Journalistin mit ADHS, Angelina Boer­ger, schreibt dazu: „Sie hilft mir dabei zu verstehen, wer ich wirklich bin, meine Maske abzulegen und endlich ICH zu sein.“