: „Große Sprachlosigkeit“
Wenn Kinder erleben, dass ein nahestehender Mensch stirbt, müssen Lehrkräfte aktiv werden, erläutert Trauerberaterin Susanne Claus
Frau Claus, Sie haben früher selbst als Religionslehrerin in Waldorfschulen gearbeitet. Heute bieten Sie Lehrerkollegien Schulungen zum Umgang mit Tod und Trauer in der Schule an. Welche Fragen haben Lehrkräfte bei diesem Thema?
Susanne Claus: Mir wird oft von einer großen Sprachlosigkeit im Lehrerzimmer berichtet, wenn es um Dinge geht, die nichts mit dem Fachunterricht zu tun haben. In der Grundschule gibt es viel Unsicherheit, was man Kindern zumuten kann, wenn eine Person gestorben ist, die sie persönlich kennen. Allgemein besteht das Gefühl, dass man in solchen Fällen reagieren und Betroffene unterstützen muss, doch man weiß nicht wie.
Was raten Sie bei solchen Fragen?
Erst mal rate ich zu Ehrlichkeit. Wenn ein Kind gestorben ist und man darüber nicht spricht, merken die Kinder, dass etwas nicht stimmt. Vertrauen ist in solchen Fällen am wichtigsten, und das entsteht durch Ehrlichkeit. Ich betone, dass man seine eigene Betroffenheit und Trauer ernst nehmen soll und Kindern gegenüber auch zeigen darf, das fällt Lehrkräften meist schwerer als Erzieher:innen. Für Lehrer:innen ist es oft ein Problem, wenn sie nicht auf alle Fragen zum Thema Tod antworten können. Kindern tut es gut, wenn sie sehen, das Erwachsene nicht alles wissen.
Gibt es Regeln, wie man sich verhalten soll?
Ein achtsamer Umgang mit trauernden Kindern ist wichtig. Das fängt bei Situationen an, die vielfach von Erwachsenen gar nicht wahrgenommen werden. Wenn ein Mädchen erzählt, dass ihr Hund gestorben ist und ihre Lehrerin mit den Worten „Dann kauft euch mal schnell einen neuen“ reagiert, dann ist das nicht angemessen. Es geht auch ganz anders. Ein Junge erzählt im Unterricht, dass er einen toten Vogel im Garten gefunden hat. Darauf schlägt die Klassenlehrerin vor, den Pastor anzurufen, um den Vogel zu beerdigen. Der Pastor ist auch gekommen und die Kinder konnten über ähnliche Erlebnisse und ihre Gefühle sprechen.
Wie sieht es bei Jugendlichen bei diesem Thema aus?
Jugendliche suchen eher den Kontakt zu Gleichaltrigen als zu Lehrkräften. Man sollte sich trotzdem als Ansprechpartner anbieten, ohne sich aufzudrängen, und eine mögliche Ablehnung akzeptieren. Dabei gilt es, bei Trauerfällen nicht nur die Betroffenen, sondern auch die übrigen Gruppenmitglieder im Blick zu haben. Man kann sie ruhig fragen: „Wie geht es euch? Braucht ihr ein Gespräch?“ Oder man bietet einfach an: „Wenn du magst, koche ich dir einen Tee.“ Das ist oft das Schwerste für Lehrkräfte: Einfach nur da zu sein. Für Kinder und Jugendliche ist es ganz wichtig zu spüren, dass da jemand ist, den man ansprechen kann und der sie unterstützt. Wichtig sind für sie auch normale Alltagsstrukturen in belastenden Situationen, gleichzeitig brauchen sie manchmal eine Auszeit. Wenn jemand sagt: „Ich will die letzten Tage bei meinem sterbenden Bruder sein“, dann sollte das akzeptiert werden.
Wer sollte bei einem Trauerfall in der Klasse aktiv werden?
In jedem Fall die KlassenlehrerInnen, weil sie die Kinder am besten kennen. Ich ermutige dazu, andere KollegInnen mit ins Boot zu holen, wenn man sich unsicher fühlt. Bei Bedarf kann man sich auch Hilfe von außen holen, zum Beispiel bei Mitgliedern des Bundesverbandes für Trauerbegleitung. Insgesamt steigt zum Glück das Bewusstsein, dass Lehrkräfte gemeinsam für Kinder in schweren Zeiten zuständig sind.
Sie empfehlen Schulen einen Trauerkoffer mit Kerzen, Trauerkarten, einem Teddy oder anderen Utensilien bei Todesfällen. Dabei schlagen Sie auch Listen für unvorhergesehene Fälle vor. Was meinen Sie damit genau?
Im Koffer können Listen mit Regeln Platz finden, wie man sich als Lehrkraft bei einem Unfall oder einem Suizid verhält. Solche Listen geben in Krisensituationen Orientierung. Weil sie von den Lehrkräften selbst aufgestellt werden, sind sie eine Chance, sich im Kollegium über grundlegende Fragen zu unterhalten. Wie schreiben wir die Eltern an? Was können betroffene Familien von uns erwarten, wo sind unsere Grenzen? Welche Rituale entwickeln wir, um von einem Kind Abschied zu nehmen? Brauchen wir einen Ort der Trauer auf dem Schulgelände? Auf welche Hilfsangebote außerhalb der Schule weisen wir hin? Solche Trauerkoffer haben einige Schulen bereits, aber sie sind noch die große Ausnahme. Außerdem bieten Hospizvereine in vielen Städten Projektwochen unter dem Titel „Hospiz macht Schule“ an. Das ist ein sehr sinnvolles Angebot.
Interview: Joachim Göres
www.hospizmachtschule.de
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