Russland erzieht sich kleine Schulsoldaten

Der Kreml schwört den Bildungssektor immer stärker auf antiwestliche Ideologie ein.
Bei Kritik bekommen es selbst Grund­schü­le­r*in­nen mit den Behörden zu tun

Aus Moskau Inna Hartwich

„Hallo Soldat, mein Name ist Wika“, schreibt eine Achtjährige in geschwungener Krakelschrift in ihr liniertes Heft. Es ist eine Hausaufgabe aus ihrer Schule in der Region Irkutsk: einen Brief an die Front schreiben. Das Aufklärungsministerium, wie das Bildungsministerium in Russland heißt, hatte bereits im März seinen Bildungseinrichtungen „empfohlen“, sie mögen den Geist der Armee mit patriotischen Aktionen in Kindergärten und Schulen stärken.

„Wika“ schreibt: „Da ich schon lesen kann, weiß ich aus dem Internet, welche wichtige Aufgabe du, mein lieber Soldat, zu erfüllen hast. Du bist unser Verteidiger! Ich bin stolz auf dich.“ Dazu gibt es Kästchen, in die Wörter wie „Vaterland“, „Sieger“ und „Russland“ geschrieben werden sollen. Der Bürgermeister aus „Wikas“ Heimatstadt Tscheremchowo präsentiert die Briefe der Kinder voller Begeisterung, sagt, wie verständnisvoll doch die Kleinen mit der Lage, in der sich Russland derzeit befinde, umgingen. Unter welchem ideologischen Zwang die Kinder solche Zeilen verfassen, sagt der Bürgermeister freilich nicht.

Regionalsender bringen derweil Reportagen aus den Schulen, wo Kinder teilweise weinen, weil ihre Väter eingezogen worden sind. Die Stimme aus dem Off sagt dazu trocken: „Auch manche Jungen reagieren emotional, aber sie werden bald lernen, dass die Verteidigung der Heimat die wichtigste Aufgabe im Leben eines Mannes ist, und diese Aufgabe später selbst übernehmen.“ Manche Er­zie­he­r*in­nen lassen Kleinkinder in Z-Formationen marschieren und veröffentlichen die Videos in den sozialen Netzwerken, Leh­re­r*in­nen teilen Vorlagen für die Soldatenbriefe aus und lassen ältere Schüler Gedichte schrei-ben, in denen sie der Armee huldigen.

Seit Russland Krieg in der U­kraine führt, versucht der Kreml, auch den Bildungssektor in den Kriegsdienst zu stellen. Wer kritisiert – ob Eltern, Lehrer*innen, Schü­le­r*in­nen – lebt in einem System der Überwachung und Bestrafung ein immer gefährlicheres Leben. Lehrer*innen, die sich weigern, sogenannte „Gespräche über Wichtiges“ zu veranstalten, eine Art Klassenstunde im Patriotismus-Format, verlieren unter fadenscheinigen Gründen die Stelle. Manche Schulen kämpfen derweil gegen Lehrermangel an, weil gewisse Pädagogen mit der Ausrufung der Mobilisierung eingezogen worden sind, andere eben davor ins Exil geflohen sind.

Manchmal holt die Polizei selbst Grund­schü­le­r*in­nen aus dem Klassenraum, weil die Schule ihre Schüler denunziert hat. Der krasseste Fall ereignete sich kürzlich an einer Schule im Südosten Moskaus. Ein zehnjähriges Mädchen soll in einem Klassenchat ukrainische Symbolik verwendet haben und darin über Krieg und Frieden diskutiert haben wollen. So berichtet es die Schule. Die Po­li­zis­t*in­nen holten das Kind aus dem Unterricht ab, mehrere Be­am­t*in­nen hatten es über dessen Freizeitgestaltung und den Beruf der Mutter ausgefragt. Die Schulleiterin hatte die Mutter nicht informiert. Sie hatte den Behörden ohnehin geschrieben, die Mutter „beeinflusse das Kind falsch“. Die Frau hatte ihre Tochter aus den „Gesprächen über Wichtiges“ nehmen lassen. Dabei lernen Erst­kläss­le­r*in­nen sowjetische Kriegslieder, Drittklässler*innen, dass es kaum etwas Wichtigeres gebe, als für die Heimat zu sterben, und Zehntklässler*innen, dass die „Spezialoperation“ eine vom Westen aufgezwungene Notwendigkeit sei.

Po­li­zis­t*in­nen holten die 10-Jährige aus dem Unterricht und fragten sie aus. Ohne Wissen der Mutter

An sich ist das Fernbleiben aus dem Unterricht möglich, weil die Stunde als Wahlfach gedacht ist. Manche Schul­lei­te­r*in­nen erklären die Stunde jedoch zur Pflicht. Der Druck der Schulen ist so groß, dass nicht alle Eltern den Weg des Widerstandes zu gehen bereit sind, weil sie den Schulalltag ihrer Kinder nicht gefährden wollen. Die Mutter der Zehnjährigen weigerte sich – und fand ihr Kind auf der Polizeiwache wieder. Nun steht die ganze Familie unter Aufsicht des Jugendamtes und muss sich einer sogenannten „sozialen Betreuung“ der Behörde unterziehen. Dabei erklären staatliche Angestellte den Eltern, welche „Pflichten“ sie für die „richtige geistige, psychische und moralische Entwicklung“ ihrer Kinder erfüllen müssten. Ein Einzelfall sind solche Maßnahmen nicht.

Laut russischer Verfassung ist politische Einflussnahme an Schulen verboten. Doch Gesetze legen die Ministerien nach eigenem Gutdünken aus. In den Geschichtsbüchern für die zehnte Klasse wird den Jugendlichen von der „Wiedergeburt Russlands“ erzählt und die „Wiedervereinigung der Krim mit Russland“ gelehrt. In Klassenstunden wird ihnen von der „notwendigen Vernichtung der Nazis in der Ukraine“ berichtet und die „Krise 2022“ erläutert, die „Russland nur Gutes“ bringe. Den Schul­di­rek­to­r*in­nen stehen – wie zu Sowjetzeiten – Be­ra­te­r*in­nen für ideologische Erziehungsarbeit zur Seite. Auch beim sogenannten JeGE, dem russischen Abitur, soll in diesem Schuljahr das Wissen über die „Spezialoperation“ abgefragt werden.

Ab Januar sollen auch die Kindergärten des Landes ein neues Bildungsprogramm bekommen. Damit will das Aufklärungsministerium einen „einzigen Bildungsraum“ erschaffen, in dem die „nationale Färbung und die moralischen und spirituellen Werte Russlands“ gelehrt werden sollen. Dadurch verschwinde die Vielfalt der Einrichtungen, dem Individuellen werde noch weniger Raum gelassen, sagen die Kritiker der Reform. Zum Spielen, ohnehin nicht besonders ausgeprägt in russischen Kindergärten, bleibt noch weniger Zeit, weil gewisse Lernstunden absolviert werden müssen: Stunden über die Bedeutung der russischen Trikolore, über den Beruf des Soldats. Sergei Plachotnikow, der einen Holzbaukasten zum freien Spielen entwickelt hat und für die Vorschulbildung in einer Moskauer Privatschule zuständig ist, sagt: „Man erzieht damit Vollstrecker, keine Schöpfer des eigenen Lebens.“