: Großer Komplott, dem die Söhne zum Opfer fallen
Russische Mütter wollen ihre Söhne vor dem Tod im Ukraine-Krieg retten – und begeben sich dabei bereitwillig auf den Pfad der Weltverschwörung
Aus MoskauInna Hartwich
Olga Zukanowa kann sich in Rage reden. „Alles muss man selbst machen, niemand wird einem helfen“, sagt sie dann und schaut durchdringend in die Kamera ihres Rechners. Olga Zukanowa aber will, dass ihr geholfen wird, und macht deshalb vieles selbst – weil sie ihren einzigen Sohn vor der Front in der Ukraine bewahren will. Der 20-jährige Wehrdienstleistende soll zu ihr nach Samara an der Wolga zurückkommen. Schließlich sei sie „eine gewöhnliche Frau“, „eine normale Mutter“, die nicht wolle, dass auf ihr Kind geschossen werde.
Dafür hat sie sich mit einigen anderen Frauen quer durch Russland zum „Rat der Mütter und Ehefrauen“ zusammengetan. Seit September ziehen sie zu den Militäreinheiten ihrer Söhne und Ehemänner, schreiben Beschwerbebriefe an die Ministerien, fordern ein Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Sie prangern die Missstände bei der Mobilisierung an, verlangen wärmere Stiefel für ihre Söhne, moderne Waffen, bessere Vorbereitung. Die „militärische Spezialoperation“, wie der Krieg in der Ukraine in Russland offiziell heißt, stellen sie dabei nicht in Frage. Wie sie es auch kaum hinterfragen, unter welchem Dach sie ihren Zusammenschluss registriert haben.
Die „Volksunion für die Wiedergeburt Russlands“, als dessen Teil der „Rat“ nun fungiert, setzt sich für eine Wiederbegründung der Sowjetunion ein, hetzt gegen eine angebliche „jüdische Oligarchie“, spricht sich gegen 5G-Mobilfunkmasten und Covid-Impfungen aus. Die meisten Frauen, die sich „vom Staat nicht den Mund verbieten lassen wollen“, wie sie sagen, begeben sich bewusst und bereitwillig auf diesen Pfad der Weltverschwörung. Für viele von ihnen ist Wladimir Putin ein CIA-Agent, der ihr Land „im Namen des Westens“ zerstören und „das besondere russische Volk“ der „Gier“ dieses Westens preisgeben wolle.
Olga Zukanowa, die Wortführerin des Rates, will auf Fragen dazu nicht eingehen. Ein persönliches Interview sagt sie zunächst zu, dann verschiebt sie es wieder, verweist auf Zeitknappheit und vor allem auf das „Ausländische Agenten“-Gesetz, das seit 1. Dezember noch verschärft worden ist. Dadurch ist jeder, der Kenntnisse und Erkenntnisse über die russische Armee an Außenstehende gebe, potenzieller „Agent“, weil er dem „Feind“ in die Hände spiele. Deshalb lädt sie lediglich zu „Pressekonferenzen“ des Rates ein, die alle paar Tage online stattfinden und eine Art Hilfeschrei der Frauen sind. Fragen stellen können die Journalist*innen dabei nicht.
Nach und nach ergreifen die Mütter und Ehefrauen das Wort und erzählen ihre Geschichte. Da ist Zukanowa selbst, deren Sohn erst im Juni, als Putins „Spezialoperation“ bereits Monate andauerte, als Wehrdienstleistender zur Armee ging, im Juli folgte der Eid, im August habe der Sohn am Telefon berichtet, man dränge ihn zur Unterschrift als Vertragssoldat. „Wir wollten ihn nicht freikaufen, alles sollte ehrlich ablaufen. Der Staat hat doch versprochen, keine Wehrdienstleistenden an die Front zu schicken.“
Da ist auch Sinaida Kurbatowa aus der Region Woronesch, deren Sohn sich gleich nach der Ausrufung der Mobilmachung einziehen ließ und bereits acht Tage danach an der Front in der Ukraine umkam. Die Mutter bekam erst die Leiche ihres Kindes und Wochen später einen Brief seiner Militäreinheit mit der Mitteilung, ihr Sohn – zu dem Zeitpunkt längst tot – durchlaufe eine Vorbereitung für seinen Kampfeinsatz.
Irina Tschistjakowa aus Petrosawodsk in Karelien berichtet, wie sie seit Monaten alles in Bewegung setze, um ihren Sohn Kirill wiederzufinden. Mehrmals sei sie bereits selbst im Kampfgebiet gewesen, habe etliche Leichen gesehen, ihren „Jungen“ aber nicht gefunden. Sie glaube nun, dass ihr Sohn womöglich in ukrainischer Gefangenschaft bei Kyjiw sei, niemand könne ihr überprüfte Informationen geben.
Die Frauen halten teils ganze Mappen von Schreiben in die Kamera, verlangen nach „Gerechtigkeit“. Und vor allem nach besserer Vorbereitung und Ausstattung für ihre kämpfenden Söhne. „Sie wissen doch nichts vom Leben, sie haben doch nur Computerspiele gespielt, wie sollen sie unser Land vorm Feind schützen?“, sagt eine Viktoria. Eine Tatjana meint: „Sie kämpfen gegen die Nato, die sich Jahrzehnte lang darauf vorbereitet hat, Russland in die Knie zu zwingen.“
Damit wiederholt sie das offizielle russische Narrativ, der Kreml sei vom Westen dazu gedrängt worden, die „Spezialoperation“ in der Ukraine zu starten. Das „aufbegehrende Volk“, als das sich der „Rat der Mütter und Ehefrauen“ sieht, begehrt nicht gegen das Putin-Regime auf und nicht gegen den Krieg, es kritisiert lediglich, wie die Mobilisierung ausgeführt wird – und merkt dadurch, wie viel schief läuft in einem System, das es kaum je hinterfragt hat.
Die Repressionen richteten sich gegen jeden Andersdenkenden, sagen sie bass erstaunt, die Behörden ließen sie einfach stehen, es gebe keine Antworten auf vielerlei Fragen, stattdessen nur Androhungen von Strafen. Die Führung halte die Menschen arm, die Wirtschaft liege darnieder, der Staat habe das Monopol auf Information übernommen und niemand interessiere sich für die individuellen Probleme der Menschen. Es ist, als ob sie erwachten und merkten, was um sie herum passiert. „Wie kann das sein?“, rufen sie, manche weinend, in die Kameras – und finden eine Antwort, die nicht das Putin-Regime kritisiert, sondern die Vereinigten Staaten, den Westen, die Reichen anprangert.
Sie reproduzieren voreinander antisemitische Verschwörungstheorien, und niemand von ihnen zuckt auch nur zusammen. Schuld daran, dass die russische Führung ihre Söhne und Ehemänner als Leibeigene des Staates betrachtet, ist nach ihrer Auffassung nicht der russische Staat, sondern der Westen, der dem russischen Staat diktiere, wie er das russische Volk zugrunderichten könne. Das Einrichten in diesen Erzählungen des Großen Komplotts macht ihre Verzweiflung offenbar erträglicher.
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