Tragikomödie „Bardo“ im Kino: Der Film bin ich

„Bardo“, der neue Film des mexikanischen Regisseurs und Drehbuchautors Alejandro González Iñárritu, erweist sich als bildgewaltige Selbstbespiegelung.

Ein Mann, umgeben von Frauen hinter einer Bühne im Film "Bardo"

Im Mittelpunkt: Silverio (Daniel Giménez Cacho) in „Bardo“ Foto: Netflix

Und – hast Du bekommen, was Du haben wolltest von diesem Leben, trotz allem?“, wird ein unbekanntes Gegenüber in Raymond Carvers Gedicht „Spätes Fragment“ befragt. Es bejaht und erwidert auf die Rückfrage, was es denn gewollt habe: „Sagen können, dass ich geliebt werde, mich geliebt fühlen auf dieser Erde.“

Diese Zeilen eröffnen den Film „Birdman“ (2014), in dem der gealterte Schauspieler Riggan Thomson (Michael Keaton) nach seinem lange vergangenen Erfolg als Star seelenloser Blockbuster versucht, am Broadway ein Stück zu inszenieren, um etwas von Bedeutung zu schaffen, wie er sagt, und sich so als Künstler zu beweisen.

Der mexikanische Regisseur und Drehbuchautor Alejandro González Iñárritu übte mit dem schwarzhumorigen Drama scharfe Kritik am gegenwärtigen Zustand der Filmindustrie, die sich vorrangig auf lukrative Superhelden-Streifen konzentriert – ebenso an einem Publikum, das nur das schnöde Spektakel im Kino sucht, und schließlich am Geltungsdrang von Businessgrößen, wie sein Protagonist eine ist.

Solche, die, wenn sie davon fabulieren, in einem undankbaren Umfeld etwas von Gewicht kreieren zu wollen, doch zuerst um Bewunderung, wenn man so will, eine verquer-abstrahierte Form von Carvers „Liebe“, ringen. Iñárritu wurde für seine treffsichere Satire mit dem Oscar für die beste Regie geehrt, ehe er die Auszeichnung für „The Revenant“ im darauffolgenden Jahr erneut erhielt.

Eine opulente Nabelschau

Nun kehrt er, sieben Jahre später, mit „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ zurück. Es hätte sich gelohnt, sich das zitierte Gedicht als Einleitung für dieses Projekt aufzuheben. Als eine Art ehrliche Einordnung dessen, was in den kommenden zweieinhalb Stunden folgt. Eine opulente Nabelschau nämlich, die vorgibt, eine gewichtige, anschlussfähige Meditation über die fortwährende Suche nach einer aufrichtig gelebten Identität zu sein, die jedoch eine hermetische Selbstbespiegelungs­tirade bleibt.

Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass sich Iñárritu damit einem Gebaren annähert, das er in „Birdman“ noch verurteilte. Ausgerechnet Iñárritu, muss man hinzufügen, der anders als besagter Riggan Thomson gar nicht unter Beweis stellen muss, dass er zu bedeutsamer Kunst fähig ist. Im Gegenteil, das beinahe erdrückend Gehaltvolle, das schonungslos Tiefschürfende, ist das eigentliche Element des mexikanischen Filmemachers.

Seine ersten drei, episodenhaft erzählten Filme „Amores Perros“ (2000), „21 Gramm“ (2003) und „Babel“ (2006) sind Reflexionen über die Verbundenheit menschlicher Schicksale. Iñárritu wirft Fragen danach auf, wann es die Schuld des Einzelnen ist, die zum Unglück des anderen führt, wann Leid das Symptom eines ungerechten Systems ist – und wann es schlicht die Konsequenz eines unentrinnbaren Zufalls zu sein scheint. Das mitschwingende Interesse am Metaphysischen, wie es vor allem im Sterbe-Drama „Biutiful“ (2010) zum Tragen kommt, zeichnete Iñárritu in der ersten Dekade seines Schaffens besonders aus.

„Birdman“ stellte eine Abkehr davon dar. Eine, die sich mit „The Revenant“ – im Kern nichts anderes als eine heroisch-emotionale Abenteuergeschichte – als eine Hinwendung zu kon­ven­tio­nel­le­ren, weltlicheren Themen erwies und ihm einen bisher ungekannten Erfolg einbrachte. Sein neues Projekt versprach allein durch den Titel eine Rückbesinnung auf seine ursprüngliche Neugier zu werden. Im tibetanischen Buddhismus ist „Bardo“ ein Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt oder der endgültigen Erlösung aus diesem Kreislauf.

Surrealistische Angstträume

Zumindest im Hinblick auf das Spiel mit dem Überwirklichen ist der Film eine Reminiszenz: Der Protagonist Silverio (Daniel Giménez Cacho) – ein mexikanischer Journalist und Dokumentarfilmer, der mittlerweile in den USA lebt – bewegt sich durch eine verworrene Mischung aus fantastisch aufgeladenen Erinnerungsfetzen und surrealistischen Angstträumen, an deren Interpretation Sigmund Freud seine Freude hätte.

Auslöser für seinen aufgewühlten Geisteszustand ist zunächst die Verleihung eines prestigeträchtigen Journalismus-Preises, der mit ihm erstmals an einen Lateinamerikaner vergeben wird. Der enorme Druck scheint eine existenzielle Krise herbeizuführen, in der es unter anderem darum geht, welche Beziehung er noch zu seinem Heimatland hat, was seine Identität ausmacht, wie er zu seiner Familie steht, und was für ein Filmemacher er sein möchte.

Dass Iñárritu während seiner langjährigen Abwesenheit über Ähnliches reflektiert haben dürfte, ist nach den Oscar-Erfolgen naheliegend. Auch ansonsten ist Silverio aufgrund einer Vielzahl an Überschneidungen als Alter Ego des Regisseurs, der erneut mit Nicolás Giacobone (unter anderem „The Revenant“) das Drehbuch erarbeitete, erkennbar. Während der facettenreichen Traumreise, auf die sich „Bardo“ im Zuge dieser Reflexion begibt, thront die innere Zerrissenheit zwischen Mexiko und den USA über allem.

„Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“. Regie: Alejandro González Iñárritu. Mit Daniel Giménez Cacho, Griselda Siciliani u. a. Mexiko 2022, 159 Min.

Um diese zu illustrieren, zeigt Iñárritu seinen Silverio in diversen Konfrontationen.

Etwa in einem Gespräch mit dem US-Botschafter über die Gräuel des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs, die dieser abzuwiegeln versucht; in einem albtraumhaften TV-Interview, in dem ihn der Moderator (Francisco Rubio), aufgrund seiner wohlsituierten Stellung, seiner Begeisterung für den American Way of Life, der Heuchelei bezichtigt, wenn er den Umgang des Landes mit mexikanischen Einwanderern kritisiert; und im Zwist mit seinem jugendlichen Sohn (Íker Sánchez Solano), der ihn fragt, weshalb er das Land für Los Angeles verlassen habe, wenn er es doch fortwährend romantisiert – der ihm vorwirft, in seinen Dokus die porträtierten Migranten auch nur auszubeuten.

Korrelationen mit der eigenen Biografie

Nachdem es sich bei „Bardo“ um den ersten Film seit seinem Debüt handelt, für den der in Kalifornien lebende Iñárritu nach über 20 Jahren in seine Heimat zurückkehrte und zwischenzeitlich einen VR-Kurzfilm produzierte, der eine Flucht über die mexikanische Grenze in die USA zeigt, sind auch hier Korrelationen mit seiner eigenen Biografie zu erkennen.

Meist kommen diese Selbstreferenzen allerdings weniger einem Verwundbar-Machen gleich, als dass sie Grundlage zur Selbstverteidigung, für ein Von-sich-Weisen jeder Kritik sind. Bezeichnend ist vor allem die Szene, in der Silverio auf seinen Ex-Kollegen reagiert, indem er ihm vorwirft, eine von Macht korrumpierte Form des Journalismus zu betreiben, bevor er ihn schlicht auf „Stumm“ stellt.

Hinzu kommen privatere, stark klischeebeladene Exkursionen, in denen Silverio – auf Kindergröße geschrumpft, aber mit dem Gesicht eines mittelalten Mannes – mit seinem bereits verstorbenen Vater über die Härten des Lebens spricht. Oder sein neugeborener Sohn fordert, zurück in den Mutterleib verfrachtet zu werden, weil diese Welt einfach zu desolat sei.

Das Fehlen eines echten Narrativs, das über derlei technisch wie artistisch herausragend inszenierte, aber inhaltlich beinah solipsistisch anmutende Erzählfragmente hinausgeht, verhindert eine tieferes Eintauchen in den Film – was ihn zu einem in meisterlichen Bildern erzählten, langatmigen Ego-Projekt macht, das große Themen zwar durchaus streift, letztlich aber immer um den Protagonisten beziehungsweise seinen Schöpfer kreist.

„Bardo“ wirkt damit wie das Werk eines Regisseurs, der bei allem künstlerischen Können der Hybris erliegt, die Sicht der Welt auf seine Person zu steuern, ihre Bewunderung einzufordern. Man hofft, dass dieser Film nicht die letztgültige Antwort darauf sein wird, was für eine Art Filmemacher Alejandro González Iñárritu künftig sein möchte.

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