: Sozialdemokraten in gerechter Mission
Die SPD schlägt Pflöcke für künftige Wahlen ein. Zu den Missionen zählen Klimaneutralität und Umverteilung. Unklarheit herrscht über Rolf Mützenichs Äußerung zu einer „Terrorliste“
Aus Berlin Anna Lehmann und Stefan Reinecke
Wenn es künftig an der Tür klingelt und Menschen missionieren wollen, dann sind es möglicherweise nicht die Zeugen Jehovas, sondern Saskia Esken, Lars Klingbeil oder Kevin Kühnert. Die SPD hat auf ihrem Debattenkonvent am Wochenende – eine Art kleiner Parteitag – vier Missionen beschlossen, und die beiden SPD-Vorsitzenden sowie der Generalsekretär wollen diese nun unters Volk bringen.
Man will einen klimaneutralen Umbau der Wirtschaft und einen starken Staat, der dabei für soziale Gerechtigkeit sorgt. Man will Digitalisierung fördern, aber kein digitales Prekariat. In der alternden Gesellschaft will die SPD für Fachkräfte sorgen und für ein modernes Einwanderungsrecht. Und sie will die Zeitenwende nutzen, um Globalisierung gerecht zu gestalten.
Und das alles unter dem Logo der Verteilungsgerechtigkeit, mit einem Staat, der deutlich mehr in Infrastruktur und den ökologischen Umbau investiert – ein unverhohlenes Bekenntnis zur weiteren Aussetzung der Schuldenbremse.
Außerdem bekennt sich die SPD zur Besteuerung von Vermögen, Kapitalerträgen und Erbschaften und wagt sich mit einer kleinen Kampfansage an die von ihr geführte Ampelkoalition vor: Sie will eine Debatte über eine einmalige Vermögensabgabe, einen sogenannten Transformationssoli, „um die anstehenden Aufgaben auskömmlich finanzieren zu können“. „Deutschland hat viele starke Schultern – wir brauchen sie jetzt“ heißt es in der Passage, die auf Antrag der Jusos in den Leitantrag übernommen wird. Einstimmig. Die FDP wird absehbar dagegenhalten. Mit diesen Botschaften läuft sich die SPD nicht nur warm für ihren Parteitag im nächsten Jahr, sondern auch für die Europawahl 2024 und die Bundestagswahl 2025.
Das Format ist ein Experiment: Einen Tag lang diskutiert die Partei mit Delegierten und Gästen, schon am nächsten Tag sollen Ergebnisse in Beschlüsse gegossen werden. Debatte und Entscheidung an einem Ort. Rund 1.000 Genoss:innen sind in eine ehemalige Brauerei in Berlin-Neukölln gekommen, die doppelte Anzahl ist online dabei. Das Bild prägen viele Jüngere. Der Juso-Erfolg hat eine Basis.
Eine der interessantesten Debatten findet nur online statt: Fraktionschef Rolf Mützenich und Ursula Schröder, Direktorin des Hamburger Instituts für Friedensforschung, diskutieren über den Ukrainekrieg. Mützenich, sonst stets ausgeglichen und freundlich, wirkt angefasst. Diplomatie, die er fordere, werde auch von den Koalitionspartnern diskreditiert – das habe ihn „entsetzt“. Der Westen verfolge eine enge, selbstbezügliche Politik, anstatt global Partner zu suchen.
„Die meisten Kriege seit 1945 sind nicht auf dem Schlachtfeld beendet worden“, sagt Mützenich. Mit Rigorismus werde auch der Ukrainekrieg nicht beendet werden. Im Übrigen sei die Mehrheit der Deutschen laut Umfragen für mehr Diplomatie. Es sei ein Fehler, „dass diejenigen, die sich um Diplomatie zu kümmern haben, mehr über Waffen reden, als sie über Diplomatie reden“, sagt Mützenich. Eine Breitseite gegen die grüne Außenministerin Annelena Baerbock.
Ursula Schröder hält dagegen: Waffen oder Diplomatie – das sei die falsche Alternative. Bei der Ukraine sei man allenfalls im Stadium von Verhandlungen über Verhandlungen. Diese jetzt öffentlich zu fordern, sei kurzsichtig. Syrien habe gezeigt, dass Verhandlungen auch genutzt werden können, um den Krieg radikal zu verschärfen. Die Debatte hat Niveau, ist kontrovers und trifft den Kern.
Mützenich kritisiert, dass er „von der ukrainischen Regierung auf eine Terrorliste gesetzt wurde“, nur weil er einen Waffenstillstand oder lokale Waffenruhen für sinnvoll hält. Steht der Fraktionschef der Regierungspartei in Berlin, das die Ukraine massiv unterstützt, auf einer Terrorliste? Das ukrainische Außenministerium dementiert am Samstagabend.
Träumt Mützenich? Weder noch. Es gibt seit Sommer eine offizielle, vom „Zentrum gegen Desinformation des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine“ veröffentlichte Liste mit „Personen, die russische Propagandanarrative verbreiten“. Dort wird Mützenich aufgeführt, neben Alice Schwarzer, Christian Hacke, Roger Waters und Marine Le Pen und vielen anderen.
Terrorliste ist eine zu dramatische Formel – aber den SPD-Fraktionschef in eine Reihe mit Le Pen und Leuten, die Kreml-Falschmeldungen verbreiten, zu stellen, ist unterirdisch. Seltsam ist auch, dass besagte Liste am Sonntag aus dem Netz verschwunden ist.
Die Stimmung auf dem SPD-Konvent ist eher aufseiten des Fraktionschefs, die Aufregung über den diplomatischen Eklat hält sich in Grenzen. Mützenich müsse aber deutlicher erklären, welche diplomatischen Ansätze er denn sehe, heißt es aus der Führung der SPD. Sonst würde der falsche Eindruck entstehen, er wolle Verhandlungen mit Russland auf Kosten der Ukraine.
Wenig bis keine Kritik gibt es auch an der Reise des Bundeskanzlers nach China. Der Zeitpunkt – kurz nach dem Parteitag der Kommunistischen Partei, die Abschottung und autoritäre Machtfülle zementierte – war von westlichen Partnern, aber auch von den Koalitionspartner:innen heftig kritisiert worden.
Olaf Scholz kommt am Samstag direkt aus Peking nach Neukölln. Er ist gut gelaunt. Er mag das Townhall-Format, mit ungefilterten Fragen aus dem Publikum. Die Stimmung gewogen, manche Frage beginnt mit: „Olaf, du machst einen tollen Job als Kanzler.“ Scholz bringt gute Neuigkeiten mit: Auch Chinas Staatspräsident Xi Jinping ist gegen „den Einsatz von und die Drohung mit Atomwaffen“ – eine klare und vor allem neue Forderung an Putin. „Schon dafür hat sich die Reise gelohnt“, sagt Scholz. Tosender Jubel bei den Genoss:innen. Realpolitik plus Frieden. Das alte SPD-Rezept.
Im Fokus der Debatte stehen jedoch der Klimawandel, die Dekarbonisierung und die Transformation hin zu erneuerbaren Energien. Aber auch da gibt es kaum offenen Streit. Eine der wenigen kritischen Fragen an Scholz stellt Bettina van Suntum, Genossin und Klimaaktivistin aus Leipzig. „Die SPD begreift die Dramatik des Klimawandels nicht“, sagt sie. Es reiche nicht, auf technische Lösungen zu setzen. Der Kanzler erwidert, er sehe das anders, und er lobt Erneuerbare und Wasserstofftechnologie als „gigantische Leistung mit Nutzen für die ganze Welt“. Deutschland müsse der Welt zeigen, dass auch ein Industrieland mit erneuerbaren Energien sein Wohlstandsniveau halten kann.
So beschließt es auch der Konvent: Die beherzte Nutzung von erneuerbaren Energien „begreifen wir als große Chance für wirtschaftliches Wachstum“, heißt es. Immerhin stellt die SPD klar: Die aktuell verstärkte Nutzung fossiler Energien im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine darf nicht zu neuen Abhängigkeiten führen. Die Zukunft liege nicht in Fracking, Atomkraft oder Kohle, sondern in Erneuerbaren. „Da muss die SPD völlig klar sein“, sagt Parteichef Lars Klingbeil.
Klar ist: Das Feld will die SPD nicht den Grünen überlassen. Man begreift Klimaschutz jetzt auch in der SPD als eigene Mission.
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