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Da kommt was auf uns zu

Die Daten zu Gletscherschmelze und Meeresspiegelanstieg werden immer präziser. Für Küstenregionen ist das wichtig, um angemessen zu reagieren

Von Nick Reimer

Die Küste ist in Schleswig-Holstein 1.125 Kilometer lang. Dazu kommen zahlreiche Inseln sowie 3.938 Quadratkilometer Küstenniederungen. Im Februar legte die Landesregierung deshalb ihren neuen Generalplan Küstenschutz vor, mit dem „in Zeiten des Klimawandels eine langfristige Grundlage für Wohnen und Wirtschaften“ geschaffen werden soll. Mit diesem Plan übernehme die Landesregierung Verantwortung auch für künftige Generationen.

Allerdings dürfte der Plan bereits ein halbes Jahr später Makulatur sein. „Grundlage für den derzeitigen Küstenschutz ist der Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC“, erklärt Olaf Eisen, Professor für Glaziologie am Alfred-Wegener-Institut AWI. Nach dem jüngsten Sachstandsbericht wird der Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts im „Worstcase-Szenario“ mindestens 62 Zentimeter gegenüber dem Stand von 2014 steigen. Eine neue Studie kommt sogar zu dem Ergebnis, dass es wesentlich mehr sein wird.

„Das Neue an der Studie: Die Kollegen haben nicht mit Klimamodellen in die Zukunft geschaut, sondern nachgemessen, was sich in den letzten zehn Jahren auf Grönland abgespielt hat“, sagt Professor Eisen. Demnach schmilzt der Eispanzer doppelt so schnell wie bislang angenommen. Nicht nur das: Selbst wenn die Menschheit sofort aufhört, Kohle, Öl und Gas zu verbrennen, der grönländische Eisschild würde trotzdem weiter schmelzen und in den kommenden Jahrzehnten 110 Billionen Tonnen Eis verlieren. Allein durch Grönland, berechnet die Studie, wird der Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts um mindestens 78 Zentimeter steigen.

Im Wesentlichen setzt sich der weltweite Pegelanstieg aus vier Komponenten zusammen. Die erste ist die „thermische“ Ausdehnung, wärmeres Wasser braucht mehr Platz. „Mehr als 90 Prozent jener Energie, die der menschgemachte Klimawandel bislang fabriziert hat, haben uns die Ozeane abgenommen“, sagt Mojib Latif, Professor am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Das Meerwasser hat die gigantische Energiemenge von 228 Zettajoule aufgenommen. Um eine Vorstellung dafür zu bekommen, verglich der Atmosphärenforscher Lijing Cheng diese Energie mit jener der Atombombe von Hiroshima. Demnach haben die Ozeane in den letzten 25 Jahren die Wärmemenge von 3,6 Milliarden Hiroshima-Atombomben aufgenommen – etwa vier Hiroshima-Bomben pro Sekunde. Mittlerweile haben sich die Meere bis in 2.000 Meter Tiefe aufgeheizt. Die Wärmeausdehnung ist für etwa ein Drittel des globalen Meeresspiegelanstiegs von durchschnittlich etwa 6 Zentimeter verantwortlich, der seit 2004 beobachtet wurde.

„Schwieriger vorherzusagen sind die Komponenten drei und vier“, sagt Latif. „Grönland und die Eisschmelze in der Antarktis. Diese werden sich nur durch Modellierungen abschätzen lassen.“ Die bisherigen Klimamodelle, die nur die Atmosphäre, die Ozeane und das Meereis simulieren, werden dank der neuen Studie jetzt um die Interaktion mit den kontinentalen Eismassen erweitert. Latif: „Ein wichtiger Schritt, um zu verlässlicheren Aussagen über den künftigen Meeresspiegelanstieg zu gelangen.

Aber da hat nun die neue Studie einen bahnbrechenden Durchbruch erzielt: Das Team um Jason Box von der Geologischen Forschungsanstalt für Dänemark und Grönland GEUS ermittelte mit Messungen vor Ort und über Satellitenbilder jene Eismenge, die durch die Erderhitzung in den vergangenen Jahren verloren gegangen ist. Modelle können die komplexen Wechselwirkungen zwischen Gletscher, Ozean und Atmosphäre bisher nur unvollständig erfassen.

Über ihre Methode kamen Box und sein Team zu dem Ergebnis, das mit Sicherheit 3,3 Prozent der vergletscherten Fläche Grönlands mit rund 1,78 Millionen Quadratkilometern abschmelzen wird. Besonders betroffen sind demnach jene Stellen, wo der Schnee geschmolzen, der dunklere Gletscher darunter freigelegt wurde: Weiße Schneeflächen reflektieren mehr Sonnenenergie, dunklere absorbieren mehr – und heizen sich so weiter auf.

Das Grönlandeis gilt als Kipp-Element. Wird der Schmelzprozess einmal in Gang gesetzt, lässt er sich nicht mehr aufhalten. Die Folgen wären verheerend: Allein wenn Grönland abschmilzt, steigt der Meeresspiegel weltweit um sieben Meter. Schleswig-Holsteins Landeshauptstadt Kiel liegt fünf Meter über null.

Niederländische Forscher haben deshalb mit einer Machbarkeitsstudie vorgeschlagen, die Nordsee einzudeichen: 161 Kilometer Damm von Frankreich bis nach England und 476 Kilometer von Schottland bis nach Norwegen würden – zu heutigen Baukosten – etwa 500 Milliarden Euro kosten. Für die Anrainer von Nord- und Ostsee gut investiertes Geld, denn wenn jeder einzelne Staat eigenen Küstenschutz betreibt, wird das viel teurer. Allerdings müsste bald mit so einem Projekt begonnen werden: Die Forscher taxieren die Bauzeit auf 20 Jahre. Und der Meeresspiegel steigt in dieser Zeit ja weiter.

Jahr für Jahr gehen in Alpen, ­Anden oder Rocky Mountains, im Altai, Pamir oder Himalaja rund 335 Gigatonnen Gletschereis ­verloren. Das entspricht einem Eisblock der Strecke von Düsseldorf nach Karlsruhe, hundert Meter breit und zehn (!) Kilometer hoch. So viel Wasser spülen die Gebirgsgletscher jedes Jahr in die Ozeane. Der Grönland bedeckende Eispanzer hat seit 2002 rund 4.700 ­Milliarden Tonnen Eis verloren, wie das dänische Polar-Portal berichtet – genug, um die USA einen halben Meter unter Wasser zu setzen.

„Die Untersuchung des Klimawandels und seiner Folgen gehört mittlerweile zum Besten, was die Forschung je geliefert hat“

Olaf Eisen, Professor für Glaziologie

Das größte Potenzial, das Antlitz der Erde komplett zu verändern, geht jedoch von den Eismassen der Antarktis aus: Schmelzen diese komplett ab, wird der Meeresspiegel um mehr als 60 Meter ansteigen. Lange galt die Antarktis als stabil, jetzt ergab eine Studie in Nature aber, dass dies nur so lange der Fall ist, wie der Temperaturanstieg auf 2 Grad begrenzt wird. Aktuell befindet sich die Menschheit auf dem Weg von mehr als 3 Grad.

„Es ist jetzt wichtig, diese Erkenntnisse in die Gesellschaft zu tragen“, sagt der Glaziologe Olaf Eisen: „Leute, das kommt auf uns zu, deshalb müssen wir viel schneller agieren, als wir es geplant haben.“ Würden wir jetzt mit wirklich echtem Klimaschutz beginnen, könnte der Anstieg der Ozeane begrenzt werden. Kohlekraftwerke, Fleischkonsum, LNG-Erdgas und kein Tempolimit: „Wenn wir so weitermachen wie derzeit, geht das auf fünf, sechs Meter im nächsten Jahrhundert zu.“ Ein britisch-kanadisches Forscherteam untersuchte, wie sich der Meeresspiegel bis zum Jahr 2500 entwickeln wird. Ergebnis: Selbst wenn wir uns jetzt anstrengen, steigen die Meere bis Mitte des Jahrtausends bis um zwei Meter.

Olaf Eisen erkennt dennoch einen Fortschritt: „Die Untersuchung des Klimawandels und seiner Folgen gehört mittlerweile zum Besten, was die Forschung je geliefert hat.“ Die Kehrseite dieses Fortschritts sei aber leider auch, dass die Gesellschaft hier bisher am wenigsten bereit war, etwas dagegen zu unternehmen. Das sieht auch der Meteorologe Mojib Latif so: „Bei keinem anderen Thema ist die zeitliche Lücke zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlichem Handeln so groß wie beim Klima.“ Was derzeit hierzulande politisch passiert, sei ein Desaster.

Dabei bietet die aktuelle Krise die Chance, mit einer langfristigen Strategie die nächste Krise zu vermeiden – die des steigenden Meeresspiegels. Leider garantiere der Erkenntnisfortschritt derzeit noch keinen im Handeln.

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