Preis und Verlockungen des Sieges

Die Erfolge der ukrainischen Armee bei Charkiw haben die Stimmung der Menschen gehoben – Militärs mahnen einen realistischen Blick auf die Lage an

Ein Feld, aus der Luft fotografiert, voller Bombenkrater. In der Mitte ein schmaler Weg, auf dem einige Militärfahrzeuge stehen.

Nach der Schlacht: Bombenkrater in einem Feld bei Isjum. Die Ukraine hat die Stadt diese Woche zurückerobert Foto: Kostantyn Liberov/ap

Aus Luzk Juri Konkewitsch

Nach den jüngsten Erfolgen der ukrainischen Armee gegen die russischen Besatzer hat Pavel Vyshebaba eine klare Botschaft: „Meine Anweisungen für die Gegenoffensive sind folgende: 1. Freut euch über unseren Triumph. 2. Bedenkt den Preis des Sieges. 3. Bedenkt den Preis des Sieges. 4. Bedenkt den Preis des Sieges“. Vyshebaba ist einer der bekanntesten ukrai­nischen Kämpfer, er schreibt in sozialen Medien über den Alltag an der Front – dies gab er nun den „Hitzköpfen“ mit auf den Weg, die auf eine schnelle, siegreiche Offensive hoffen.

Vyshebaba hat ein gutes Gespür für die Stimmung seiner Mitbürger – sie hinterlassen Hunderte von Kommentaren unter seinen Texten. Und es stimmt, der Vormarsch hat ihre Stimmung gehoben. Ähnlich war es nach dem Abzug der russischen Truppen aus der Region Kyjiw, der Zerstörung des Kreuzers „Moskwa“ und den ersten Anschlägen auf die Stützpunkte der Besatzer auf der Krim. Aber als in den sozialen Netzwerken die Euphorie über den Sieg im Gebiet um Charkiw und den Vorstoß im Süden begann, warnte Vyshebaba schnell: „Noch ist nicht die Zeit, den Sieg zu feiern, der Preis dafür ist zu hoch.“

Hohe Verluste

Was er damit meint, weiß Oleh Kuch, Vorsteher der Gemeinde Ljubeschow in Nordwolhynien, fast an der Grenze zu Belarus. Er bereitet sich auf die Begräbnisse von gleich vier Soldaten vor. So viele Tote an einem Tag gab es in hier nicht einmal während des schrecklichen Beschusses in den ostukrainischen Städten Sjewjerodonezk und Lyssy­tschansk im Mai und Juni.

Zu Beginn der jetzigen Offensive im Ort Balaklija äußerten sich auch der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Waleri Saluschni, und der ehemalige Kommandeur der Luftlandetruppen, Michailo Sabrodski, öffentlich mahnend. Die Generäle schrieben in einem Artikel, dass die Gesellschaft sich von Illusionen verabschieden solle, dass es nun bald vorbei sei – der Krieg werde noch bis 2023 dauern.

Ein Zeichen dafür, dass die Regierung die unbeliebte Mobilisierung verlängern muss. Es gibt wie gesagt auch auf ukrainischer Seite Verluste, und ein Teil der Soldaten muss aus gesundheitlichen Gründen demobilisiert werden. Dem werden schon bald neue Mobilmachungen folgen. Und das bedeutet, dass die Gesellschaft keine Zeit hat, zur Ruhe zu kommen oder gar den Krieg zu vergessen, so wie im Frühling 2015, als es nach der heißen Phase der Mehrheit der Ukrainer so schien, als ob sie ihr Leben einfach weiter­leben könnten, und der Krieg nur im Donbass stattfand.

In welche Richtung geht es?

Der erstaunliche Vormarsch der Ukraine zwang die russischen Streitkräfte in der vergangenen Woche zum chaotischen Rückzug und verschob die Frontlinie um einige hundert Kilometer. Es ist schwer abzuschätzen, in welche Richtung die Ukraine ihre Offensive nun fortsetzen wird.

Bemerkenswert, dass Wolodimir Selenski und andere hohe Persönlichkeiten sich nicht in die Karten schauen lassen und nur sehr wohldosiert über ihre Absichten berichten. Verständlich aber, denn die ukrainische Armee ist der russischen zahlen- und waffenmäßig immer noch unterlegen. Würde man die ukrainische Armee auf zu vielen Kriegsschauplätzen gleichzeitig einsetzen, wären sie deutlich anfälliger für russische Gegenangriffe. Zugleich klar, dass man Chancen vergibt, wenn sich die Truppen zu langsam oder in die falsche Richtung bewegen. Zu langes Abwarten würde zum Einfrieren der Front im Winter führen.

Nach dem Erfolg im Gebiet Charkiw muss die ukrainische Armee jetzt die befreiten Gebiete verteidigen. Auch das ist eine Aufgaben, die viele Ressourcen bindet, etwa bei der Minenräumung und der Suche nach russischen Saboteuren.

Die ukrainischen Streitkräfte haben jetzt verschiedene Möglichkeiten: Wenn sie die Russen aus dem Nordosten vertrieben haben, könnten sie jetzt weiter in Richtung Donbass oder stärker nach Süden vorstoßen. Die Bevölkerung unterstützt beide Pläne, das Vertrauen in die Armee ist immens. Aber das Zeitfenster, in dem die Ukraine Möglichkeiten hat, die russische Panik und das Chaos unter den abziehenden russischen Truppen auszunutzen, ist klein. Jeder weitere Tag ermöglicht Russland, seine Truppen zu konsolidieren, um zur Taktik der zermürbenden Artillerieschlachten zurückzukehren.

Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschni, und der stellvertretende Vorsitzende des Komitees für nationale Sicherheit, Michailo Sabrodski, denken schon an die ferne Zukunft. Sie versuchen, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass es aus militärischer Sicht notwendig sei, auch gleich die Krim zurückzuholen. Dabei gehe es auch um eine Identifizierung von Verrätern, den Übergang und die Integration in die Ukraine.

„Noch ist nicht die Zeit, den Sieg zu feiern, der Preis dafür ist zu hoch“

Pavel Vyshebaba, ukrainischer Soldat
Angriffe auf Infrastruktur

Es gibt noch eine weitere potentielle Möglichkeit, wie sich die Ereignisse entwickeln können. Experten haben schon früher darauf hingewiesen: Russland kann beginnen, systematisch Objekte der ukrainischen Infrastruktur anzugreifen. Am Abend des 11. September führten russische Angriffe dazu, dass fünf Gemeinden im Osten der Ukraine ganz oder teilweise ohne Strom waren. Sie hatten eine Anlage in Charkiw beschädigt, die einen Großteil der Region mit Strom und Wärme versorgt.

Einige Tage später schlugen acht russische Raketen in Krywyj Rih ein, der Heimatstadt von Präsident Selenski. Dort trafen sie die Schleusen eines Stausees, was zu Überflutungen in der Stadt und gleichzeitig zu einer Unterbrechung der Wasserversorgung führte. Es war eine deutliche Mahnung von russischer Seite: Trotz der russischen Niederlage in einer Schlacht ist der Krieg noch lange nicht vorbei. Bis dahin hatte es keine gezielten massiven Angriffe auf zivile, strategisch wichtige Infrastruktur gegeben.

Eine aktuelle Umfrage des internationalen Kyjiwer Instituts für Soziologie ergab übrigens: 87 Prozent der Ukrainer halten territoriale Zugeständnisse für inakzeptabel – 3 Prozent mehr als im Juli. Nur 8 Prozent denken, dass man bestimmte Gebiete abtreten solle, um den Krieg zu beenden. Sogar in der Ost­ukraine, wo zur Zeit die heftigsten Kämpfe stattfinden, sind 85 Prozent gegen Zugeständnisse an Russland.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey