Umgang mit Obdachlosen in Stade: Untergebracht im Dreck
Eine Obdachlosenunterkunft in Stade ist völlig heruntergekommen. Die Linke vermutet Absicht: Die Stadt wolle die Fläche als Baugebiet ausweisen.
Die Räume gehören zur Obdachlosenunterkunft am Fredenbecker Weg im niedersächsischen Stade. Die Tür zu einem Zimmer steht offen, weitere sind verschlossen. Ein Blick von außen, durch verdreckte Fenster, zeigt ebenso scheinbar verlassene Räume in ähnlichem Zustand. Es ist eine der ältesten Baracken des Ensembles aus vier eingeschossigen Gebäuden und einem neueren Container.
„Die Unterkunft ist in einem katastrophalen Zustand“, sagt Tristan Jorde von der Stader Linkspartei. Hier dürfe man eigentlich niemanden unterbringen, sagt er. Gemeinsam mit seinem Genossen Alexander Klinger hat Jorde einen Antrag in den Stadtrat eingebracht, in dem sie ein neues Konzept für die Unterkunft fordern. Besonders wichtig sei, dies gemeinsam mit den Bewohner*innen der Unterkunft zu erarbeiten.
Denn auch wenn es kaum vorstellbar ist: Bewohner*innen gibt es hier. Laut der Stadt leben zurzeit etwa zehn Personen in der Unterkunft. Einige Menschen, sagt Jorde, wohnen bereits seit mehreren Jahren hier.
In ihrem Antrag fordern die Politiker der Linken nicht nur ein langfristiges Konzept, welches auf die Bedürfnisse der Bewohner*innen abgestimmt ist, sondern auch eine Verankerung in der städtischen Sozialpolitik. Derzeit wird das Thema Obdachlosigkeit unter „Gefahrenabwehr“ verhandelt. Deshalb ist die Thematik im Ausschuss für Feuerwehr, Sicherheit und Verkehr verankert. „Obdachlosigkeit ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ lautet der erste Satz unter dem Stichwort „Obdachlosenhilfe“ auf der Internetseite der Stadt Stade.
Dass das Problem mit der Unterkunft bereits seit Langem besteht, bezeugt nicht nur der völlig heruntergekommene Zustand der Gebäude. Bereits 2016 und 2018 wurden zwei Baracken abgerissen, eine dritte soll bald folgen. Eine Containerreihe mit Duschen und Zimmern mit Kochmöglichkeit soll diese ersetzen – noch sind die Container allerdings nicht bewohnt. Sie stellen laut der Stadt Stade eine Übergangslösung dar, langfristig braucht es einen Neubau. Doch wann und wo die neue Unterkunft gebaut werden soll, ist unklar.
Währenddessen wird das an die Unterkunft angrenzende Wohngebiet immer weiter ausgeweitet. Nur wenige Meter liegen noch zwischen den Neubauten und den heruntergekommenen Baracken. Die Frage nach dem weiteren Umgang mit der Unterkunft hat dadurch an Dringlichkeit gewonnen. Die Politiker der Linken vermuten, dass die Stadt auch das Grundstück der Obdachlosenunterkunft als Baugebiet ausweisen möchte.
Die strahlend weißen Neubauten mit gepflegten Vorgärten, dekorativen Türschildern und polierten Neuwagen auf dem privaten Parkplatz lassen die Obdachlosenunterkunft noch verfallener aussehen: Hier prallen Welten aufeinander.
Das Grundstück liegt etwa zehn Autominuten vom Zentrum der Stadt entfernt, eine Busverbindung gibt es jedoch nicht. Im Gegensatz zu allen anderen Straßen der Umgebung ist der Weg zur Unterkunft nicht asphaltiert. „Man drängt die Leute an den Rand der Stadt“, kritisiert Jorde.
Bis vor wenigen Jahren gab es in der Gegend nicht einmal einen Supermarkt – immerhin das hat sich durch das Neubaugebiet verbessert, an dem sich auch ein Supermarkt ansiedelte. Doch nicht nur geografisch sind die Obdachlosen verdrängt.
Seit wann gibt es die Unterkunft? Wer lebt hier genau? Wie kann es sein, dass sie so vernachlässigt wird? Was sind die Vorschläge zum Umgang mit der Unterkunft der anderen Fraktionen? Politik, Sozialarbeit, Verwaltung – niemand kann oder will auf Nachfrage der taz antworten. Stadträte von CDU und SPD, den beiden größten Fraktionen im Rat, antworten nicht auf Anrufe oder Mails. Ein Mitarbeiter der Verwaltung gibt an, einmal die Woche käme eine Person der Diakonie bei der Unterkunft vorbei. Doch die sagt auf Nachfrage, sie käme nur in Notfällen zum Fredenbecker Weg.
Bürgermeister Sönke Hartlef (CDU) möchte sich zum weiteren Umgang mit dem Grundstück erst nach der kommenden Ausschusssitzung am 8. September äußern. Es sei üblich, dass erst die Politik und dann die Presse informiert würde, sagt er am Telefon. Doch auch Fragen zum Hintergrund der Problematik beantwortet er nicht.
Die Linke hatte den Antrag auf ein neues Konzept bereits im Januar erstmals gestellt. Damals ließen sie sich auf die Aufforderung ein, den Antrag zurückzuziehen. Ihnen sei gesagt worden, die Stadt arbeite bereits an einem Konzept, sagt Jorde. Für die Sitzung am 8. September haben sie den Antrag erneut gestellt und wollen ihn dieses Mal nicht zurückziehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja