Der Mann fürs Große

In Westeuropa, vor allem in Deutschland, sind viele Menschen dankbar für die Politik von Michail Gorbatschow. Sie ermöglichte eine Vereinigung der beiden deutschen Länder. Im Osten des Kontinents sieht man den in dieser Woche verstorbenen letzten Staatschef der UdSSR hingegen deutlich kritischer. Die einen erkennen in ihm einen Verräter, der die Sowjetunion zerstört hat, die anderen einen kaltblütigen Apparatschik, der den russisch dominierten Staatenbund in Tbilissi, Vilnius und Baku mit Kugeln und Schlägen verteidigen ließ. Unsere vier Autor:innen zeichnen ein differenzierteres Bild

Verteidiger, Verräter, Befreier – wer so eine entscheidende Rolle hatte wie Michail Gorbatschow, der steht im Fokus vieler Projektionen Foto: René Burri/Magnum Photos/Agentur Focus

Der Mann, der Putins Angriff gestützt hat

Aus Kyjiw Anastasia Magasowa

Für die osteuropäischen Länder, die nach dem Ende der Sowjetunion einen demokratischen Weg eingeschlagen haben, ist es schwierig, die oft in Westeuropa geäußerte Begeisterung für Michail Gorbatschow zu teilen. Die Generation, die bereits in den unabhängigen postsowjetischen Ländern aufgewachsen ist, sieht Gorbatschows einzige gute Tat vielmehr darin, dass ein Pakt zur Auflösung der Sowjetunion unterzeichnet wurde. Doch dies wird nicht als Akt seines guten Willens wahrgenommen, sondern als erzwungener Schritt.

Denn zu diesem Zeitpunkt konnte die Sowjetunion in ihren Grenzen und ihrer Verfasstheit nicht mehr existieren, weil das ganze Projekt nicht mehr lebensfähig war. Auch die Berliner Mauer fiel nicht durch den Willen Gorbatschows, sondern weil Menschen unter Selbstaufopferung nach Freiheit und Vereinigung strebten.

Für die Ukrai­ne­r*in­nen ist die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 und ihre anschließende Vertuschung mit Gorbatschows Herrschaft verbunden. Besonders kritisch wurde ihre Wahrnehmung jedoch 2014. Als Gorbatschow Russlands Annexion der Krim unterstützte, war das, als wäre den Menschen beim Anblick des „Demokraten“ Gorbatschow ein Schleier vor den Augen weggezogen worden.

„Welche Legitimität braucht es in Bezug auf die Krim? Mag das Referendum auch durch Mängel gekennzeichnet gewesen sein, so haben die Menschen dort zweifellos klar und unmissverständlich gesagt, dass sie Teil Russlands sein wollen“, sagte er dem Spiegel im Januar 2015. Gorbatschow weigerte sich, die Anwesenheit russischer Truppen im Donbass zur Kenntnis zu nehmen. In all seinen Kommentaren unterstützte er Putins Vorgehen in der Ukraine und forderte den Westen auf, alle Sanktionen ­gegen Russland aufzuheben.

„Ich vertrete entschieden die Position, Russland zu verteidigen und damit auch seinen Präsidenten Wladimir Putin. Ich bin absolut davon überzeugt, dass Putin derzeit der Beste ist, um für Russlands Interessen einzutreten.“ Natürlich gebe es an Putins Politik genug zu kritisieren, doch daran werde er sich nicht beteiligen, sagte Gorbatschow 2014 bei einer Gedenkfeier zum Fall der Berliner Mauer. Zu diesem Zeitpunkt war die russische Invasion in der Ukraine bereits neun Monate in Gange.

2022 äußerte sich Gorbatschow nicht öffentlich zu Russlands Angriffskrieg. Dennoch wird er den Ukrai­ne­r*in­nen nicht als Demokrat in Erinnerung bleiben, sondern als jemand, der Putins Aggression unterstützt hat.

Aus dem Russischen:

Barbara Oertel

Er hat die Zeit geprägt, ohne sie zu verstehen

Aus WarschauGabriele Lesser

Mitte der 80er Jahre kämpfte Polen noch immer mit den Folgen des Kriegsrechts, das General Wojciech Jaruzelski im Dezember 1981 verhängt hatte. Jaruzelski behauptete, die Sowjets stünden kurz vor dem Einmarsch, da die Friedens- und Gewerkschaftsbewegung Solidarnośćdas Land unregierbar mache.

Das Misstrauen gegenüber „den Russen“ saß tief. Während die eigenen polnischen Reformversuche des Sozialismus „von unten“ damit endeten, dass Tausende Solidarność-Anhänger in Gefängnissen und Lagern landeten, wollte der sow­jetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow den Sozialismus „von oben“ reformieren. „Er hatte vielleicht einen demokratischen Instinkt, aber er war kein Demokrat, kannte die Demokratie nicht und verstand sie auch nicht“, kommentiert Polens Ex-Präsident Aleksander Kwasniewski den Tod Gorbatschows.

„Aber er hatte einen guten Willen, glaubte an die Mitwirkung der ‚sowjetischen Bürger‘ am politischen System und brachte einen Prozess ins Rollen, der bald nicht mehr aufzuhalten war.“ Es gebe Länder, die ihm ganz besonders dankbar sein sollten, so Kwasniewski. „Das ist in erster Linie Deutschland. Ohne Gorbatschow hätte es keine Wiedervereinigung gegeben.“

Auch mittelosteuropäische Länder sollten Gorbatschow dankbar sein, denn er habe mit der Doktrin Breschnews gebrochen, der zufolge die Sowjetarmee in alle Satellitenstaaten einmarschieren konnte. Anne Applebaum, Pulitzerpreisträgerin, Autorin etlicher Bücher zur Geschichte Osteuropas, traf Gorbatschow zum letzten Mal am 9. November 2014, dem 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin. Die Amerikanerin hält Gorbatschow für „eine Person, die wie kaum eine andere die Epoche seiner Zeit prägte, sie zugleich aber kaum verstand“. Misswirtschaft und Verfall des Sowjetsystems habe Gorbatschow zunächst auf den Alkoholkonsum zurückgeführt, und erst später Geheimhaltung und Intransparenz in Partei und Staat als Ursachen erkannt.

Er habe nie die Wut in den Satellitenstaaten Moskaus begriffen, „die auch einen ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ ablehnten“, sagt Applebaum. Am Ende sei er der Geschichte hinterhergelaufen, statt sie zu gestalten.

Man erinnert sich, aber verzeiht nicht

Aus Tbilissi Sandro Gvindadze

Im April 1989 forderten Zehntausende in der Hauptstadt Tiflis Georgiens Austritt aus der UdSSR. Am 9. April, im Morgengrauen, lösten interne Truppen und Fallschirmjäger der sowjetischen Armee die Kundgebung auf. Sie setzten Giftgas, Gummiknüppel und Schaufeln ein, die sonst zum Ausheben von Schützengräben dienten. Dabei wurden mehr als 2.000 Menschen verletzt, 21 starben. Das jüngste Opfer war 15 Jahre alt.

Bis heute ist nicht klar, welche Rolle Gorbatschow bei diesen Ereignissen gespielt hat. Eine Ermittlungskommission befragte Hunderte Personen – von einfachen Soldaten bis hin zu einem Innenminister, nicht aber Gorbatschow.

1989 hatte er die Vorfälle in Tiflis als „Angriff auf die Perestroika“ bezeichnet. In den folgenden Jahren sagte Gorbatschow immer wieder, sein „Gewissen sei rein“, die Entscheidung zur Anwendung von Gewalt sei „hinter seinem Rücken“ getroffen worden „Damals und auch später habe ich an meinem Credo festgehalten: Die schwierigsten Probleme müssen mit politischen Mitteln gelöst werden, ohne Gewaltanwendung“, schrieb er 2021.

Wer jedoch ist dann verantwortlich? Gorbatschow schob die Schuld der Führung der Sowjetrepublik Georgien in die Schuhe. Der damalige erste KP-Sekretär, Dschumber Patiaschwili, versichert, dass der Präsident den Befehl gegeben habe. In einem Interview sagte Patiaschwili, dass der Generalsekretär ihm am Tag vor der Tragödie gesagt habe: „Wir müssen den Platz sofort räumen lassen, die Armee wird sich darum kümmern!“

Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass die Soldaten ihre Befugnisse überschritten hätten und der Einsatz von Gewalt unverhältnismäßig gewesen war. Bestraft wurde jedoch niemand. Dies war der letzte Tropfen, der die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Georgiens angesichts von Gorbatschows Reformen desillusionierte. Zwei Jahre später, 1991, fand in Georgien ein Referendum statt, bei dem 98,9 Prozent für die Unabhängigkeit stimmten.

Viele erinnern sich heute daran, dass die Volksabstimmung, die Kundgebungen, ja überhaupt Kritik an der Sowjetmacht erst dank der Liberalisierung unter Gorbatschow möglich wurden. Deshalb sind ihm viele Georgier*innen – trotz aller Widersprüche – immer noch dankbar. Unter ihnen ist auch Vano Merabischwili, der frühere Innenminister Georgiens. „Er hat unserer Generation die Chance gegeben, in einer normalen europäischen Gesellschaft zu leben und vollwertige Weltbürger zu werden“, sagte er am Mittwoch.

Aus dem Russischen:

Barbara Oertel

Er hat das Licht nicht verdient. Er verdient den Frieden

Aus Minsk Janka Belarus

Nie hätte ich gedacht, einmal damit zu prahlen, drei Leben gelebt zu haben: ein sowjetisches, ein unabhängiges und eins unter Lukaschenko.

Meiner Kindheit in der UdSSR folgte eine revolutionäre Perestroika-Jugend. Wir hatten das Glück, Unerlaubtes zu entdecken, keine Angst mehr zu haben, Dinge laut zu sagen, selbständig zu denken, unabhängig von der „generellen Parteilinie“. Wir mussten nicht mehr im Namen eines großen und unverständlichen Zieles lebendig sterben. Wir konnten leben, ohne Angst vor Konsequenzen. Auf der Straße konnte man den „Wind of Change“ einatmen: berauschend und voller Hoffnungen. Und ich glaubte, das sei für immer so. So viel Freiheit gab es danach nie mehr. Und wird es nie mehr geben. Es war eine Weltrevolution, die Verschiebung tektonischer Platten, und in die Spalten fiel ein Reich, das sich für ewigwährend hielt.

Ich idealisiere Gorbatschow nicht. An seinen Händen klebte Blut, aus Vilnius und Tiflis, Krebs aus Tschernobyl und die Armut der Menschen. Aber dank ihm gab es eben auch den Fall der Berliner Mauer, den Abzug der sowjetischen Truppen aus Osteuropa und Afghanistan, die Rückkehr des Physikers Andrei Sacharow, die Zeitschrift Ogonjok, deren Texte man so lange und oft las, bis die Hefte fast auseinander fielen. Und die freche Fernsehsendung „Wsgljad“ (dt. Ansicht, Meinung).

Andersdenkende wurden nicht mehr mit Gefängnis oder Psychiatrie bestraft. Die Freiheit des Wortes gab es nicht nur in der eigenen Küche. Diejenigen, die Gorbatschow heute „Mörder“ nennen, sollten begreifen, dass er auch, vielleicht unbewusst, unsere Angst getötet hat, ihn so zu nennen. Ein Freund von mir hat gesagt: „Michail Gorbatschow hat die Tore des sowjetischen Gulags geöffnet und wurde dafür von den Gefangenen verflucht.“

Für den Vorsitzenden einer kommunistischen Partei war er ein echter Rock’n’ Roller. Zum ersten Mal wussten alle von der Existenz einer sowjetischen First Lady, die zuerst bewundert, später verflucht wurde. Der erste Sowjetkongress wurde live im Fernsehen übertragen. Die Leute rannten nach Hause, um ihn anzusehen. Zum ersten Mal sahen sie, dass nicht alles so klar und eindeutig war. Solche Einschaltquoten hat nicht mal „Game of Thrones“.

Michail Gorbatschow war ein „Herrscher“, der keine Superideen verkündete und selbst keine Supermacht wollte. Seine Nachfahren in Russland machen heute alles genau umgekehrt: Millionen Menschen für die Supermacht ermorden, mit einem Atomkrieg drohen und einen neuen „Eisernen Vorhang“ fallen lassen.

Aus dem Russischen:

Gaby Coldewey