Die Geister der Vergangenheit

Am Nationaltheater Mannheim hat die Regisseurin Selen Kara „Dschinns“ nach einem Roman von Fatma Aydemir zur Uraufführung gebracht. Es ist ein gleichermaßen unterhaltsamer wie zu Herzen gehender Abend geworden

Familienszene in „Dschinns“ Foto: Maximilian Borchert

Von Shirin Sojitrawalla

In Fatma Aydemirs Roman „Dschinns“ kommen alle zu Wort. Den Anfang macht Vater Hüseyin, den Schluss bestreitet die Mutter. Dazwischen blättern sich die Lebensläufe ihrer vier Kinder auf. Eine Familie, viele Perspektiven. Der Autorin (und taz-Redakteurin) Aydemir gelingt es dabei, jeden und jede mit einem eigenen Sound, einer bestimmten Temperatur auszustatten. Das macht auch die Regisseurin und künftige Co-Intendantin des Schauspiels Essen, Selen Kara, die „Dschinns“ am Nationaltheater Mannheim in einer eigenen Fassung uraufführte.

Zu Beginn zeigt die Bühne eine Hausfassade, die wie ein Geschenk verpackt ist mit einer großen schwarzen Schleife, die auch ein Trauerband sein könnte. Nicht zuletzt erzählt Aydemirs Roman von Tod und von Schmerz. Mehr aber von Fremdheitsgefühlen innerhalb der eigenen Sippe. Die aus der Türkei stammende Familie Yilmaz hat sich auf unterschiedliche Weise in Deutschland eingerichtet. Aydemir nutzt die einzelnen Familienmitglieder, um verschiedene gesellschaftliche Aspekte zu akzentuieren: Migration, Rassismus, Feminismus, Sexismus, Klassismus, Homophobie, Transgender. Ein bisschen viel auf einmal, wobei sich das auf über 350 Seiten besser verteilt als auf nicht einmal drei Stunden Theater.

Da kommt es ziemlich dicke und dicht daher, was Kara immer wieder mit komischen Einlagen auflockert. Der älteste Sohn Hakan, gespielt von Arash Nayebbandi, legt etwa eine herrlich kabarettreife Nummer vor. Er schrammt dabei zwar nur haarscharf am Klischee vorbei, präsentiert sich aber doch in all seiner großspurigen Liebenswürdigkeit. Alles in allem gelingt Kara ein gleichermaßen unterhaltsamer wie zu Herzen gehender Abend.

Die titelgebenden Geisterwesen „Dschinns“ stehen für die dunklen Familiengeheimnisse, die durch den Tod des Vaters ans Licht gespült werden wie Dreck. Auch die Erzählstimmen des Romans kommen wie Geister daher, von den Eltern berichten sie in der göttlichen Du-Form, von den Kindern personal in der dritten Person Singular. Beides sorgt für eine gewisse Distanz zum Erzählten. Auf der Bühne sind es leider oft Monologe im Zeige-deine-Wunde-Gestus, gern im Stehen an der Rampe dargeboten, was dramaturgisch unaufregend bleibt.

Showdown zwischen Mutter und Tochter

Mit wenigen Requisiten und Mehrfachbesetzungen ihrer sechs Dar­stel­le­r:in­nen stellt Kara die markantesten Szenen des Romans im Spannungsfeld zwischen Tradition und Emanzipation nach. Mit Licht und Musik trennt sie Zeiten, Orte und Stimmungen. Toll eine Szene zu Beginn, in der sich zwei Vorgänge überlagern: die Waschung des toten Vaters und die erste Verknalltheit des Jüngsten Ümit (Yasin Boynuince) in einem Hallenbad. Dazu sitzt er am Bühnenrand und lässt sich von anderen mit Wasser beträufeln.

Richtig ans Eingemachte geht es erst im letzten Teil des Abends. Die Mutter Emine, in trostloser Verfassung, liefert sich einen regelrechten Showdown mit ihrer ältesten Tochter Sevda. Die Geister der Vergangenheit umsurren die beiden wie Moskitoschwärme. Almut Henkel, sie spielt die Emine mit blechern schneidender Stimme und stoisch starren Blicken, gelingt ein geradezu heiliger Theatermoment, nachdem sie einen kleinen Teppich ausgerollt hat und zu beten beginnt. Die performative Kraft des Glaubens führt zu gespenstischer Stille im Saal, wie sonst nie an diesem Abend.

Ursprünglich war die Uraufführung der Bühnenfassung für Anfang April angesetzt, doch Coronaerkrankungen im Ensemble haben die Premiere immer wieder verschoben. Auch die Schauspielerin der Sevda, Sascha Özlem Soydan, ist sehr kurzfristig eingesprungen, was man ihrem Spiel kein bisschen anmerkt. Mit strahlend leuch­tender Traurigkeit und hellwachem Witz präsentiert sie sich und ihre Figur. Wie schon bei „Ellbogen“, dem ersten Roman Aydemirs, ebenfalls von Selen Kara am Nationaltheater Mannheim inszeniert, sollte auch diesmal mindestens die Hälfte des Teams Rassismuserfahrungen mitbringen, sprich einen offensichtlichen Migrationshintergrund. So kommt es, dass drei der sechs Dar­stel­le­r:in­nen (neben den Genannten noch Tala Al-Deen und ­Newroz Çelik) als Gäste in Mannheim engagiert sind.

Am Ende, als sich alle in der Wohnung des Vaters in Istanbul versammeln, vervollständigt sich das Haus auf der Bühne, Seitenwände kommen hinzu, das Dach senkt sich herab. Ein Zuhause entsteht. Es bleibt ein wacklig schönes Konstrukt. Wie die Familie Yilmaz auch.