Die Grenzen des Aktivismus

Die documenta 15 in Kassel hat eröffnet. Sie propagiert teilweise ländliche Traditionen gegen modernere Kunstpraktiken. Das ist nicht immer gut für die Kunst und ihre Positionen

Installation von Cinema Caravan und Takashi Kuribayashi in der Karlsaue, Kassel. Die documenta geht bis zum 25. 9. 22. Foto: Fo­to:­ Heiko Meyer/laif

VonSophie Jung

Über die Freiheit der Kunst wurde im Vorfeld dieser 15. documenta viel debattiert. Darüber wie unmittelbar politisch die Kunst sprechen soll? Und wie es um ästhetische Positionen für eine Beurteilung steht. In den Diskussionen ließ sich das „neue“ Kunstverständnis nie so recht greifen. Die vielköpfige Kuratorengruppe Ruangrupa lud nun über 50 andere Kollektive aus der Welt nach Kassel ein. Begriffe wie „lumbung“ und „ruru“, entnommen aus dem dörflichen Ethos indonesischer Reisbauern, sollen einen kuratorischen Gegenentwurf zu dem liefern, was man sonst von der documenta kannte.

Über 1.500 Personen sollen nun an der documenta 15 beteiligt sein. Künstlerinnen aus Trinidad und Haiti, aus Mali und dem Niger, Indien, Indonesien oder Vietnam sind dabei. Im Vorfeld wurden so viele Verantwortlichkeiten und Gelder aufgeteilt, dass sich eine Idee davon, welche Kunst denn nun entstehen würde, immer mehr zerfaserte. Ein Wagnis für eine der größten Kunstschauen weltweit, die alle fünf Jahre über 500.000 Be­su­che­r:in­nen in das eher recht beschauliche Kassel pilgern lässt.

Jetzt hat die documenta endlich eröffnet. Und behauptet also Kunst als einen rein gemeinschaftlichen Prozess. Man verzichtet auf die einprägenden Inszenierungen einzelner Künstlerpersönlichkeiten und große Kuratorenstreiche. Das meiste hier ist tatsächlich noch im Entstehen.

Doch läuft man nun durch die großen Ausstellungshallen, das Fridericianium, die Documentahalle oder jenseits der Fulda, in das ziemlich abgelegene Bettenhausen zu der ehemaligen Fertigungshalle der Firma Hübner, wo es noch immer nach Schmieröl und Metallspähnen riecht, so meint man, vor allem eine große Werkstatttour zu bestreiten. Man betritt Räume, in deren Regalen noch die Ton­objekte trocknen, und trifft auf den diskreten Charme von Wandgrafiken, auf denen Workshopergebnisse skizziert sind.

In der Hübner-Halle hängt ein riesiger Webteppich aus Karton, Zeitung, Baumwolle und Acryl schneckenförmig von der Decke. Das schwebende Vestibül des ADN-Collectives aus Mali soll einen Versammlungsort von Dorfgemeinschaften abbilden. Eine filigran anmutende Architektur. Der Gruppe El Warcha aus Tunis kann man im Fridericianium dabei zusehen, wie sie aus vorgefertigten Möbelteilen funktionslose Objekte zimmert. In der Documenta-Halle riecht es nach Druckerfarbe. Ein geschäftiges Mitglied von Fehrar Publishing Practices druckt an Druckmaschinen Plakate und Zines aus. Prozess ist hier die Aktion der anderen. Man schaut auf die Bühnen – und geht dann weiter dran vorbei.

Diese Kunstbehauptung bräuchte wohl auch einen anderen Ausstellungsbegriff. Warum nicht eine Documenta als ein großes Kunstcamp, wo man sich mit diesen vielen Menschen, die vor ihren stillen Installationen stehen, wirklich austauscht?

Vom Asia Art Archive aus Hongkong würde man sehr gerne mehr über den Prozess der Recherche erfahren. Die freie Initiative sammelt Video- und Performancekunst. Auf kleinen Bildschirmen flimmern nun rare Aufnahmen von Ray Langenbach, der von 1980 bis 2000 eine subkulturelle Szene der Performancekunst in Südostasien mit der Kamera dokumentierte. Die damalige Repression in Suhartos Indonesien oder des Militärs in Thailand. Sie bildet sich in drastischen Aktionen heute weitgehend unbekannter Künst­le­r:in­nen ab. Kopfüber ließ sich einer in die Erde einbuddeln, um mit seinen noch freien Beinen in der Luft Fahrrad zu fahren. Ein anderer beißt rohe Eier auf. Humor und Schmerz liegen nah beieinander. Wie macht das Asia Art Archive so etwas ausfindig? Unter welchen Bedingungen sammeln sie diese im von Peking beobachteten Hongkong? Fragen, die man gerne diskutieren würde, stattdessen gibt es Vitrinen und kleine Bildschirme.

Einige bleiben letztlich im klassischen Format einer Ausstellung. Die Galerie Eltiqa aus dem von der Hamas kontrollierten Gaza etwa. Neben folkloristischen Darstellungen verweist sie auf Finanzprobleme und nicht bezahlbare Mieten. Freie Kunst, klar, braucht zu allererst einen Ort. Doch wie frei ist die Kunst von Eltiqa? Oder ist sie vielmehr das Resultat politischer und finanzieller Abhängigkeiten, wenn jemand wie Mohammed Al Hawajri so politisch instrumentalisierbare Bilder macht, wie seine hier ausgestellten Fotocollagen? In die Reproduktionen einer Bauern­idylle des Barbizon-Malers Jean-François Millet platziert er die Fotos hoch ausgerüsteter junger Soldaten. Trifft auf dieser Arbeit mit dem Titel „Guarnica Gaza“ etwa das israelische Militär auf die unschuldig schlummernden Kleinbauern in Gaza. Wie 1937 die Nazi-deutsche Legion Condor auf die baskische Kleinstadt Guernica? Hier werden giftige Parallelen aufgemacht, die kaum mit der Phrase von der „Freiheit der Kunst“ zu legitimieren sind. Im Treppenaufgang leuchtet es islamistisch: „Kabul – Graveyard of Empires“, Freude über das Scheitern der Demokratie in Afghanistan.

Seltsam wie hier vieles postkolonial zusammen­­gemixt wird

Seltsam wie hier vieles postkolonial zusammengemixt wird. Nur ein paar Meter weiter hat sich Party Office B2B Fadescha aus Neu-Delhi in den Kellergewölben des Hauses an der Werner-Hilpert-Straße seinen Darkroom installiert. Zwischen dunkelroten Plastikvorhängen und SM-Inventar wird eine Subkultur aus Indien sichtbar, deren Sexpraktiken Klasse, Geschlecht und familiäre Rollen auflösen will.

Man taucht kurz ein auf dieser documenta, in die Behauptungen der verschiedenen Kollektive, doch bleibt vieles bruchstückhaft und unvermittelt.

Letztlich sind es wohl die wenigen klassisch ausgearbeiteten Kunstinstallationen, die tatsächlich etwas bewirken und erzählen können. Auf den ruhigen Landschaftsaufnahmen in dem Video der südkoreanischen Künstlergruppe ikkiba­wiKrrr hat die Natur einen verheerenden Schauplatz des Zweiten Weltkriegs sich zurückerobert. Die Bunkeranlagen, Landebahnen und Grabstätten auf den pazifischen Inseln Jeju oder Peleliu sind von Pflanzen überwuchert, tropische Bäume haben ihre Wurzeln um den Beton geschlungen, ein sonorisches Kratzen von Saiteninstrumenten klingt, als käme selbst die Klanguntermalung des Films von den Lianen und Ästen auf den projizierten Bildern. Dieses Ökosystem ist von militärischen und industriellen Hinterlassenschaften des Weltkrieges geprägt, Korea bis heute politisch geteilt.

In einem Glashaus im Auepark hat die kolumbianische Gruppe Mas Arte Mas Accion Baumstämme zu einem containergroßen Stapel angeordnet. Die Sonne prallt auf das Glasdach, der Duft, des so viele Jahre organisch gewachsenen Materials, füllt den heißen Raum. Schön und betrübend zugleich. Rauschige Tonaufnahmen kommen vom Glasdach: Motorsägen, Gespräche, Vogelgezwitscher – paradiesische und höllische Sounds aus einem Mangrovenwald in Kolumbien, wo Drogenhandel und Armut auf Abholzung treffen. Entlang des gewundenen Flanierwegs im Auepark hat Mas Arte Mas Accion weitere Baumstämme als kleine Sitze auf dem saftigen Gras verteilt. Man setzt sich, schaut auf die Bäume, die unter dem gleißenden Sonnenlicht der Eröffnungstage schon zu schwächeln scheinen. Aber werden einem so die Zusammenhänge klar, die diese documenta angeblich darstellen will? Oder sind es eher die Grenzen des Aktivismus in der Kunst. Eine Band von VW-Arbeitern spielte unter dem Logo des Autoriesen bei der Eröffnung. Ukrainefahnen waren hingegen nicht zu sehen.