Neuer Roman „Nebenan“: Schrecken in der Nachbarschaft

Kristine Bilkau hat einen schauerschönen Roman vorgelegt. Eine Abrechnung mit dem Unheimlichen, ein Blick in die Untiefen der Menschen von nebenan.

Eine unwirkliche Stimmung durchzieht den Roman Foto: Alamy Stock Photos/Lutz Rose

Langsam ziehen die Containerschiffe durch den Nord-Ostsee-Kanal, und obwohl Julia vom Schlafzimmerfenster aus nicht auf die Fahrrinne schauen kann, erkennt sie doch „Stapel bunter Kästen“, die „wie von allein hinter den Dächern und Bäumen“ durch die Landschaft gleiten. Die Enddreißigerin wohnt noch nicht lange in dem namenlosen Dorf am Kanal, daher sind die alles überragenden Frachter für sie immer noch ein „unwirklicher Anblick“.

Kristine Bilkau: „Nebenan“. Luchterhand Verlag, München 2022, 288 Seiten, 22 Euro

Zu Beginn ihres neuen Romans „Nebenan“ etabliert Kristine Bilkau nicht nur eine seltsame Stimmung, sondern eben auch das literarische Terrain, das in diesem Prosawerk erkundet wird, nämlich das Unheimliche, das überall und in unmittelbarer Nachbarschaft lauert.

Die Autorin weiß um die Erzähltradition; die schaurigen Geschichten von Edgar Allan Poe und die Nachtstücke von E. T. A. Hoffmann sind in ihrem Roman allerdings nur noch als schwaches Echo zu hören. Auch der Aberglauben vorangegangener Generationen ragt nur kurz in die Gegenwart hinein, etwa wenn Julia ihren Mann Chris bittet, doch keine Wäsche zwischen Weihnachten und Neujahr aufzuhängen, weil das Unglück bringe.

Der belustigte Gatte, ein zupackender Biologe, ahnt nicht, dass seine Frau längst Horoskope liest, weil sie hofft, von innersten Wünschen zu lesen, die sich alsbald erfüllen.

Ungewisse Zukunft

Doch die Zukunft bleibt so ungewiss wie die Gegenwart überraschend: Plötzlich taucht ein unbekannter Junge vor dem Nachbarhaus auf, in dem unlängst noch eine Familie gewohnt hat, die aber plötzlich verschwunden ist. Das Kind hinterlässt unverständliche Botschaften, und Julia schwankt zwischen Neugier und schamhafter Sorge um die Menschen, die so hektisch aufbrachen.

Kristine Bilkau ist eine Schriftstellerin, die ihre Worte mit Bedacht wählt, ohne dass die literarische Sorgfalt ausgestellt ist. Selbst längere Sätze wirken nicht überladen. Wenn eine Passage auf den ersten Blick pathetisch wirkt, offenbart sich schon bald eine kühle Beobachtung. Ohnehin wechseln die Tonlagen oft. Die Unsicherheit ihrer Figuren drückt sich auch in der Sprache der Erzählinstanz aus.

Wie schon in ihrem Vorgängerbuch „Eine Liebe, in Gedanken“ hat Bilkau ein besonders gutes Gespür, für melancholische Momente angemessen schöne Formulierungen zu finden. Rätselhafte Ereignisse werden eher beiläufig erwähnt, die Übergänge vom Unwirklichen zum Unheimlichen äußerst stilsicher gestaltet.

Bilkau braucht keine knallige Handlung, keine Schurken mit Superkräften oder andere Horror­effekte, um den Grusel zu inszenieren, der sich nebenan abspielt. Die Menschen selbst erschaffen sich allein durch die Art und Weise, wie sie leben, beängstigende Verhältnisse: Es beginnt bei der Unkenntnis über die Nöte der Nachbarn und ­endet keineswegs mit den Heimlichkeiten in der eigenen Beziehung.

Region im Niedergang

Astrid verrät ihrem Mann nicht, dass sie sich in jeder freien Minute mit einem unerfüllten Kinderwunsch herumplagt. Die immer wieder eingestreuten Chatverläufe jener Frauen, die sich über ihre Erfahrungen mit immer neuen Versuchen einer künstlichen Befruchtung austauschen, sind jedenfalls genauso beklemmend wie die Berichte des Biologen über die allgegenwärtigen Plastik­partikel in der Natur, an denen die Wildtiere der Region qualvoll verrecken.

Ohnehin scheint die ganze Region einen bedrückenden Niedergang zu erleben. Viele Ladengeschäfte stehen in der ehemaligen Garnisonstadt leer. Paradeplätze zeugen zwar nicht von unbedingt besseren, aber doch bedeutungsvolleren Zeiten. Inzwischen steht in der schlecht besuchten Fußgängerzone die symbolhafte Rui­ne eines Kaufhausgebäudes.

Im Grunde hat sich hier der gesamte öffentliche Raum zu einer Art Geisterbahn entwickelt. Weil Bilkau in sichtbarer Entfernung eine markante Eisenbahnbrücke ansiedelt, nämlich eine „hohe Stahlkonstruktion, die im selben Jahrzehnt wie der Eiffelturm gebaut worden war“, handelt es sich vermutlich um Rendsburg. Doch Ortsnamen spielen in diesem Text keine Rolle, der Roman ist kein Stadtporträt, sondern einem Phänomen auf der Spur.

Während die Ballungszentren boomen, die naheliegenden und schönen Landschaften von gestressten und vermögenden Städtern in Beschlag genommen werden, gibt es tatsächlich viele Provinzorte in nicht wirklich attraktiven Gegenden, die für Investoren völlig uninteressant sind und die nicht zuletzt deshalb einen halbwegs erschwinglichen Wohnraum bieten. Doch selbst der ist für viele Familien zu teuer. Unheimlichkeit ist bei Bilkau daher auch nicht nur ein Gefühl. Der Begriff wird in diesem Roman auf seinen sprachlichen Kern zurückgeführt. Wer ohne Heim ist, bekommt es naturgemäß mit der Angst zu tun.

Paare in Spiegelkonstellationen

Wie ein klassisches Gruselkabinett lebt auch „Nebenan“ von Spiegelkonstellationen. So ist dem zugezogenen ein alteingesessenes Paar gegenübergestellt, deren Erzählstränge lange Zeit parallel laufen, sich aber an entscheidenden Punkten überschneiden.

Astrid ist Ärztin und Andreas Geschichtslehrer im Ruhestand. Während er sich über den Verfall Europas und den Ladenleerstand um die Ecke gleichermaßen sorgt (und vor lauter Infos und Sorgen zuweilen in eine Schockstarre gerät), hat sie mit der Achtlosigkeit von hochbetagten Menschen zu tun, die nicht mal bemerken, wenn die Partnerin im selben Haus stirbt.

Doch auch Astrid muss sich der Frage stellen, ob es ihr nicht manchmal an Empathie mangelt. Als ihre beste Freundin Marli in großer Not ist, weil der Sohn einen Igel angezündet hat und nun als böser Junge gilt, erteilt Astrid viele gutgemeinte Ratschläge, erkennt aber die mütterliche Seelenpein nicht. Unschuldig ist niemand in diesem klugen Roman, ohnmächtig und ängstlich wirken alle Figuren, obwohl sie es nicht immer sein müssten.

Sieht man von den politischen Rahmenbedingungen ab, auf die Einzelpersonen oft nur schwer Einfluss haben, zeigt der Roman sehr plausibel, dass einer der Gründe für die Dauerfurcht eine falsche Sehnsucht nach „einer Welt ohne Brüche“ ist. Astrid lernt beispielsweise, dass Fehler in der Vergangenheit kein Argument für falsches Handeln in der Gegenwart sind. Ihre betagte Tante sollte sie besser nicht überbehüten.

An ihrem Beispiel wird deutlich, dass Achtsamkeit auch übergriffig sein kann. Selbst als Ärztin wird sie den nahenden Tod der geliebten Elsa nicht verhindern, und es ist zudem kein Drama, wenn sich mittlerweile Nachbarin Julia zunehmend um die alte Dame kümmert.

Keine Gewissheiten

Es gehört zum literarischen Programm dieses Romans, die Figuren erkennen zu lassen, wie „dünn ihr Netz aus Verbindungen ist“ und wie wenig sie sich auf ihre Gewissheiten stützen können. Julia etwa muss sich, wenn sie ihre gegenwärtige Unzufriedenheit in den Griff bekommen möchte, endlich von der familiären Vergangenheit lösen, die sie in Kindertagen verstört hat. Die Mutter hatte sich abrupt vom Kindsvater getrennt und einen bis heute geheimnisumwitterten Neuanfang gewagt, der sich im Nachhinein als richtige Entscheidung erwies.

Die literarische Suchbewegung der Protagonistinnen führt folgerichtig zur Erkenntnis, dass überraschende Wendepunkte und schmerzvolle Einschnitte nicht zwangsläufig in unheimliche Verhältnisse enden müssen. Denn wenn sich Paare trennen oder eine Familie die gewohnte Wohnstraßenzivilisation verlässt, um vielleicht sogar ein paar Jahre im Wald zu leben, muss das keineswegs ein Schreckensszenario sein, sondern kann ein Zuhause ermöglichen, in dem es sich schon bald glücklicher, weil angstfreier, lebt.

„Nebenan“ spielt zwar mit Schrecken und Schauer, doch letzten Endes ist der sprachlich wie dramaturgisch gelungene Roman, der bis zuletzt in die Untiefen seiner Charaktere schaut und damit alles in der Schwebe hält, vor allem als literarische Abrechnung mit dem Unheimlichen zu lesen.

Der Schlüssel für das Lebensglück der Verunsicherten liegt für Bilkau schließlich im Vertrauen zueinander, das sich vor allem zeigt, wenn die Ängstlichen gemeinsam in den Abgrund schauen, ohne sich von der Fallhöhe kirre machen zu lassen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.