Flucht aus der Ukraine: Gefühlt an der Grenze

Tausende Ber­li­ne­r*in­nen haben Geflüchtete aus der Ukraine privat aufgenommen. Berlin braucht diese Hilfe. Hat das Land aus der Krise 2015 gelernt?

Am Berliner Hauptbahnhof kommt ein Zug aus Warschau mit Flüchtlingen aus der Ukraine an

Ankommen – Für viele Flüchtlinge aus der Ukraine heißt das derzeit: Erstmal nach Berlin Foto: Jens Schicke/imago

Seit kurzem sitzen bei Eva Langhorst zwei zusätzliche Personen am Abendbrottisch: Die Berlinerin hat die 62-jährige Ukrai­nerin Svitlana Zhyrova mit ihrem sechsjährigen Enkelsohn Timur in ihre Dreiraumwohnung in Berlin-Neukölln aufgenommen. „Die ersten Tage war es ein bisschen trubelig“, sagt Langhorst. Sie ist alleinerziehend und arbeitet in der Eventbranche. Ihre beiden Kinder hätten sich erst mal an die Gäste gewöhnen müssen. „Ich habe ihnen erklärt, dass wir die Wohnung für eine Weile teilen.“

Während sie erzählt, spielen Timur und Langhorsts Sohn zusammen im Kinderzimmer, Zhyrova hat sich ins Gästezimmer zurückgezogen. Der Raum stehe normalerweise leer, ab und zu nutze ihre eigene Mutter das Zimmer, um sie bei der Kinderbetreuung zu unterstützen, sagt Langhorst. „Ich habe mich zu Kriegsbeginn gefragt, was ich mir für meine Kinder wünschen würde“, sagt die 40-jährige. Und inserierte das Zimmer auf einem der Portale, auf denen derzeit private Unterkünfte an Geflüchtete aus der Ukraine vermittelt werden. Der Kontakt zu Zhyrova sei schließlich über Bekannte gekommen, die Russisch sprechen und sie auch weiterhin unterstützen. Vier Wochen könnten die beiden bei ihr bleiben. Wie es dann für sie weitergeht, sei noch unklar.

Allein in Berlin sind mindestens 10.000 Menschen privat untergekommen, einen Überblick hat gerade niemand. Und die Berliner Verwaltung ist extrem dankbar. Sie selbst ist dabei, 20.000 Plätze zu schaffen. Doch die „Unterstützung des Bundes ist in den kommenden Tagen elementar, ob durch die Bundeswehr, das THW oder weitere Unterstützungsmaßnahmen. Wir werden darauf angewiesen sein“, sagt die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey am 11. März.

Angewiesen ist man derzeit vor allem auf die Unterstützung aus der Zivilbevölkerung, denn ohne die würde Berlin es derzeit nicht schaffen, alle Ankommenden mit Schlafplätzen zu versorgen. Derzeit sind weit mehr Menschen täglich zu versorgen als in der Verwaltungskrise 2015. Damals warteten Geflüchtete zu Tausenden über Monate hinweg vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales „Lageso“ unter unwürdigen Bedingungen auf Registrierung und Erstversorgung.

Senat geht auf Ehrenamtliche zu

Hat Berlin also aus dem fatalen Behördenversagen von 2015 Lehren gezogen? Ja und nein, sagen Berliner Ini­tiativen wie „Moabit hilft“ und „Willkommen im Westend“, die bereits 2015 Geflüchtete beim Ankommen unterstützten und auch jetzt wieder Spenden organisieren, Hilfe koordinieren und beraten. „Der Senat geht schneller und konzertierter auf die Freiwilligen zu“, sagt Amei von Hülsen-Poensgen von „Willkommen im Westend“. Das betreffe nicht nur ihre eigene Initiative, sondern auch die neuen Ehrenamtlichen, die blitzartig wichtige Strukturen aufgebaut haben.

Denn die privaten Unterkünfte sind längst nicht die einzige Unterstützung aus der Zivilgesellschaft: Am Berliner Hauptbahnhof und am ZOB haben Freiwillige schon wenige Tage nach Kriegsbeginn inoffizielle Ankunftszentren aufgebaut, mit Beratung, Erstversorgung, Sprach­mitt­le­r*in­nen und Schlafplatzbörse. Die Hel­fe­r*in­nen organisieren sich über Telegram-Gruppen und leiteten die Geflüchteten, die zu Hunderten mit Zügen aus Polen und mit Bussen in Berlin ankamen, an das offizielle Ankunftszentrum weiter – von offizieller Seite war dort anfangs niemand präsent.

„Berlin liegt gefühlt gerade an der Grenze zur Ukraine“, sagt einer der ehrenamtlichen Hel­fe­r*in­nen vom Hauptbahnhof, Aaron Ghantus, 39 Jahre alt, selbstständiger Tonmeister. „Dass sehr viele Menschen kommen werden, war ziemlich schnell klar und auch, dass man etwas tun muss“, sagt er.

Er selbst hilft seit Anfang März regelmäßig mit und habe sich schnell entschieden, auch koordinierende Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen – obwohl er auch Angst davor gehabt habe, plötzlich Ansprechpartner für alle zu sein – für die Geflüchteten und die Ehrenamtlichen, für den Senat, die Bahn, die Polizei, die Medien. „Zeitweise haben wir uns sehr allein gefühlt, etwa als wir irgendwann rund 8.000 Menschen verpflegen mussten“, sagt er.

Registrierung dauert noch

Die Dialogbereitschaft der offiziellen Stellen mit den Freiwiligen sei da, bestätigt auch Diana Henniges von „Moabit hilft“. „Wir haben jetzt eine ganz andere Landesregierung als damals Rot-Schwarz, das merkt man“, sagt sie. Und natürlich seien alle von dieser humanitären Ausnahmesituation überrannt worden. „Aber Politik und Verwaltung müssen noch lernen, dass wir als Ehrenamtliche keine Zaungäste sind, über die sie verfügen können, wie sie wollen“, sagt sie. „Unsere Expertise muss auch ernst genommen werden. Immer wieder kommen wir in Situationen, wo wir es auf einmal wuppen müssen. Etwa, wenn das versprochene Catering doch noch nicht kommt und plötzlich wieder das ehrenamtlich organisierte Essen gebraucht wird“, sagt sie. „Und als das Catering dann da war, ist man wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir das Essen austeilen. So etwas muss man doch vorher mit uns besprechen.“ Die Ehrenamtlichen wollen wie andere Akteure von Bahnhofsmission bis zu den Maltesern – als gleichberechtigte Part­ne­r*in­nen wahrgenommen werden.

„Dass gerade keine Menschen in Parks schlafen müssen, ist den Freiwilligen zu verdanken“, sagt auch von Hülsen-Poensgen. „Aber dass unter den Augen des Senats die Vermittlung von Schlafplätzen über Pappschilder erfolgt ist – das geht gar nicht“, sagt sie. Bis vor Kurzem hatte der Senat selbst dazu aufgefordert, dass Hilfsbereite mit einem Schild zum Hauptbahnhof kommen sollen. „Die Gruppe am ZOB hat gezeigt, dass es auch anders geht, dort fragen sie nach, wer wo unterkommt“, sagt sie. „Was wir jetzt brauchen, sind dezentrale Anlaufpunkte, sodass wir auch mitbekommen, wenn Menschen in Schwierigkeiten geraten“, sagt sie.

Und Berlin müsste die Ankommenden endlich registrieren: „Davon hängen Leistungen ab und ob die Menschen in Berlin bleiben. Wenn sie in drei Monaten verteilt werden, dann haben sie hier doch längst Kontakte geknüpft“, sagt von Hülsen-Poensgen. Doch beim Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten weisen sie derzeit darauf hin, dass „in Kürze“ eine Online-Terminvergabe für die Registrierung kommen soll. Darauf sollten die Menschen nun warten. Wann genau es kommt? Dazu will man dort nichts sagen.

In der Neuköllner Dreiraumwohnung kommt Svitlana Zhyrova ins Wohnzimmer. Auf dem Esstisch stehen Brote, geschnittenes Gemüse und Buletten. Eva Langhorst greift zum Telefon, die beiden kommunizieren mithilfe von Online­übersetzern. Langhorst öffnet eine App und sagt auf Deutsch, dass Svitlana und Timur selbst kochen könnten, wenn sie auf etwas anderes Lust hätten. Die App spielt die Nachricht in der Übersetzung ab. Zhyrova nickt und wendet sich an ­ihren Enkel, der wiederum schüttelt den Kopf – nein, gern gemeinsames ­Abendbrot.

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