Krieg in der Ukraine: Freiheit und Würde

Was für ein Wochentag ist eigentlich und welches Datum? Nur eins ist klar: es ist der neunte Kriegstag.

Eine ältere Dame umarmt und tröstet ein kleines Mädchen

Eine ältere Frau tröstet ein Kind in einem unterirdischen Schutzraum in Kiew Foto: Carlos Barria/Reuters

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Київ taz | Fast scheint es, als ob am neunten Tag des russischen Großangriffs auf die Ukraine der Schock darüber erstmals das eigene Bewusstsein erreicht. Paradoxerweise fühlt man keine Angst mehr, obwohl die Explosionen und Raketeneinschläge Tag für Tag näher an das Haus herankommen, in dem man sich versteckt. Dafür werden mit jeder neuen Explosion und jedem neuen Bild aus den zerstörten Städten der Ukraine die Wut und der Hass größer.

Die Nächte in Kiew werden jetzt zunehmend unruhiger. Die Vororte im Nordwesten, Irpen, Butscha und Hostomel, sind unter massivem Beschuss. Entgegen den Aussagen des russischen Präsidenten Wladimir Putin zerstören russische Truppen nicht nur Infrastruktur, sondern schießen auch gezielt auf Wohngebiete. Alle Bilder dieser Kriegsverbrechen tauchen umgehend im Internet auf. Ungeachtet dessen, dass es den ukrainischen Soldaten bislang gelingt, die Angriffe abzuwehren und den Vormarsch auf Kiew aufzuhalten, verlassen die friedlichen Einwohner dieser zerstörten Orte in Scharen ihre Häuser.

Gleichzeitig bleiben aber viele Menschen in Kiew, darunter auch Frauen und Kinder. Der 16-jähriger Zachar hat in der vergangenen Woche nur eine einzige Nacht in seinem eigenen Bett geschlafen. Die restlichen Nächte hat er in einer Tiefgarage verbracht, die jetzt als Luftschutzraum dient. Der Junge erzählt, dass jede Familie dort schon ihren eigenen Platz hat. Sie haben sich dort mit Teppichen eingerichtet, es gibt Licht und Heizung, sogar das Internet funktioniert. Er sagt, dass es ihm in der Regel nicht gelingt, dort zu schlafen. Diesen Schlaf holt er dann zu Hause nach, wenn er morgens zurück in die Familienwohnung kommt. „Schulunterricht gibt es jetzt natürlich nicht. Wir haben wieder Ferien, sozusagen. Viele meiner Mitschüler sind in der Stadt geblieben. Sie planen auch nicht wegzugehen, sondern glauben an unseren baldigen Sieg“, erzählt der Kiewer Teenager.

Tatsächlich sind noch sehr viele Kinder in der Stadt. Am Donnerstag haben wir zum ersten Mal in diesen Kriegstagen das Geschrei von Kindern gehört, die im Hof Fußball spielten. Ein merkwürdig-surrealistisches Gefühl, weil im gleichen Augenblick aus der Ferne die dumpfen Geräusche von Kämpfen und Beschuss zu hören waren. Gleichzeitig kam auch ein älteres Ehepaar vorbei, das auf einem Fahrrad einen Sack mit Kartoffeln transportierte – was bedeutet, das im Geschäft nebenan eine Lebensmittellieferung eingetroffen war. Wenn es nicht dieses dumpfe Echo gäbe, könnte man meinen, alles sei wie immer, wie vor dem Krieg.

Politiker wenden sich direkt ans Volk – das beruhigt

Der Bürgermeister von Kiew, Witali Klitschko, wendet sich jeden Tag an die Kiewer und berichtet darüber, wie die Nacht in der Stadt verlaufen ist und wie die Infrastruktur funktioniert. „Alles ist schwierig, aber unter Kontrolle“, sagt er immer. Es gibt noch Telefonverbindungen und städtischen Nahverkehr, Lebensmittel und Medikamente werden noch in geringerem Umfang geliefert. Die Müllabfuhr hat wieder ihren Dienst aufgenommen. Lustig, dass vor ein paar Tagen jemand auf einen Müllcontainer „Putin, du sollst in der Hölle schmoren“ gesprayt hat. Ob russische Soldaten, wenn sie hier zufällig vorbeikommen, wohl denken, sie seien willkommen?

Am Donnerstag sprach Präsident Wolodymyr Selenskyj mit ausländischen Pressevertretern. In Kiew, in seinem Büro. Er ist präsent. Obwohl die russische Propaganda davon überzeugt ist, dass er schon lange die Ukraine verlassen hat. Er sieht erschöpft aus, der ukrainische Präsident, aber er bleibt standhaft. Jetzt ist er ein Nationalheld. Noch kurz vor Kriegsbeginn hatte er viele Kritiker und Gegner. Jetzt stehen alle geschlossen hinter ihm – sowohl Politiker als auch das Volk.

Es vergeht kein Tag, an dem die Menschen nicht seine Botschaften hören. Selbst in den Brotschlangen, von denen es in Kiew noch immer eher wenige gibt, hören sich die Menschen auf ihren Handys seine Appelle an. Sie loben ihn dafür, dass er die richtigen Worte findet, richtig agiert. Das beruhigt das ohnehin schon geeinte Volk.

In einer seiner Videoansprachen wandte er sich an den Kreml: „Wir haben nichts zu verlieren, außer unserer Freiheit und unserer Würde“. Und so denken mittlerweile alle, nicht nur in Kiew, sondern auch in den anderen Städten der Ukraine. Sollte es zu einer Blockade der ukrainischen Hauptstadt kommen, dann wird niemand aufgeben, denn bis dahin haben die Ukrainer schon einen viel zu hohen Preis für ihren Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit gezahlt.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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