Reportagen aus dem Donbass: Dokumente des vergessenen Krieges

Das Buch „In Isolation“ des ukrainischen Autors Stanislaw Assejew versammelt dessen Reportagen aus dem Donbass von 2015 bis 2017.

Ein Mann mit Kind steht an einer Barrikade vor der Regionalverwaltung in Donezk, Mai 2014

Ein Mann mit Kind steht an einer Barrikade vor der Regionalverwaltung in Donezk, Mai 2014 Foto: Maxim Shipenkov/dpa

BERLIN taz | Er hasse „das Gekicher in den Korridoren der Zeit“, hat Vladimir Nabokov postuliert, vielleicht weil ihn das Aufspüren unangenehmer historischer Fakten neben dem Entfachen der schriftstellerischen Fantasie zusätzlich belastete. 1917 war Nabokov vor der Oktoberrevolution nach Deutschland geflohen. Aus Berlin musste er 1936 vor den Nazis erneut fliehen. Zeitläufte machen weder vor Biografien halt noch vor Städtenamen.

Ursprünglich hieß die ostukrainische Industriestadt Donezk Ju­sowka, nach dem britischen Industriellen John Hughes, der sie 1869 gegründet hatte. 1924 wurde es zu Ehren von Josef Stalin in Stalino umbenannt, einen Namen, den es bis 1961 behielt. Heute ist Donezk größte Stadt inmitten eines Industriegebiets, genannt Donezkij ugolnyj bassejn, kurz Donbass, und liegt in der Ukraine.

In einem Donezker Vorort, der Trabantenstadt Makijiwka, wurde der Journalist, studierte Philosoph und Religionswissenschaftler Stanislaw Assejew 1989 geboren. Dorthin ist er 2013 nach Aufenthalten in Kiew und Frankreich wieder zurückgekehrt, um über den Krieg im Donbass zu berichten, der nach Ausrufung der sogenannten „Volksrepublik“ Donezk durch russische Separatisten begann und vom Westen weitgehend ignoriert wurde, aber auch in der Ukraine selbst verdrängt wurde.

Verschleppt von Separatisten

Der ukrainische Autor hat über den Kriegsalltag Radiobeiträge und Texte verfasst, bevor er im Sommer 2017 spurlos verschwand. Später kam heraus, dass ihn Separatisten entführt hatten. Er wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt und in ein illegales Lager verschleppt, was im Kulturzentrum „Isolazija“ in Donezk errichtet worden war. Dort wurde er Zeuge von Folter.

Stanislaw Assejew: „In Isolation. Texte aus dem Donbass“. Aus dem Russischen und Ukrainischen von Sofia Onufriv und Claudia Dathe. Edition.fotoTAPETA, Berlin, 224 Seiten, 15 Euro

Assejew kam im Dezember 2019 bei einem Gefangenenaustausch frei. Vor einiger Zeit sind Assejews gesammelte Texte aus den Jahren 2015–2017 auf Deutsch erschienen und man muss sie nun, wo Russland das Nachbarland Ukraine brutal überfallen hat, dringend lesen, um zu verstehen, wie es zu dieser Barbarei kommen konnte. „Isolation“, schreibt Assejew im Vorwort, „ist ein Gefühl, das sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht“. Wie viele Bür­ge­r:In­nen sei auch er „zu einem Schatten in der eigenen Stadt geworden“, erklärt Assejew. Karg und nackt wie eine Glühbirne ist sein Stil, unbarmherzig beschreibt er die Drastik der Granateinschläge und die Lähmung des Alltags, die damit einhergeht.

Auch er sei „zu einem Schatten in der eigenen Stadt geworden“, erklärt Assejew

Er berichtet von Kampfhandlungen, von der Notaufnahme eines Krankenhauses und der Militarisierung. Mit Kindheitsfreunden habe er noch Pläne für den Sommerurlaub in Jalta geschmiedet, nun laufen sie in „Wüsten-Tarnuniformen“ herum, mit Maschinengewehr über der Schulter und Messer im Gürtel und sehen sich im Rückgriff auf die alte Kosakentradition als „Beschützer des Volkes“.

Wahlfälschung beim Referendum

In der Sichtweise Russlands wurde die Ukraine zur Spielweise westeuropäischer und US-Interessen, „Kosmopoliten und Hippies“ verderben die Sitten. Mit wenigen Absätzen erklärt Assejew, wie Wahlen zu einem Referendum im Separatistengebiet abgehalten werden, er besucht zwei Wahllokale, trägt sich zweimal in Listen ein und stimmt mehrmals ab, niemand kontrolliert seinen Ausweis. Längst nicht alle Nachbarn von Assejew fallen direkt auf die mediale Gehirnwäsche aus Moskau herein.

Manche Rent­ne­r:In­nen wollen einfach ihre Ruhe haben, kassieren doppelt, von den Separatisten und von ukrainischen Stellen, um ihre mickrigen Renten aufzubessern. Auch Separatisten verdienen mit und verlangen von allen, die die Checkpoints zwischen der „Volksrepublik“ und der Ukraine passieren, „Zölle“. Ein mafiöses Clansystem regelt die Geschäfte.

In einer Reportage vergleicht Assejew Speisekarten und Preise von Clubs und Restaurants einer schicken Ausgehmeile in Donezk, die direkt neben zerbombten Wohnvierteln entstanden ist, um russischen Kriegsgewinnlern ein Nightlife – im westlichen Stil – zu ermöglichen. Proletarier wiederum tun so, als wäre Krieg einfach eine andere Form von Erwerbstätigkeit.

Vermeintliche Stärke ist Angst

Assejew beobachtet, wie sich ein Bergarbeiter den Freischärlern angeschlossen hat, nachdem er arbeitslos geworden ist. „Er sagt, er fühle nur dann eine emotionale Erfüllung, wenn er mit einem Geschoss neben einem Raketenwerfer stünde.“ Assejew deutet diese vermeintliche Stärke und den Widerstandswillen gegen „das Regime in Kiew“ als Angst. Angst vor Veränderungen.

Angst als praktische Dimension führt der Autor auf die Geschichte zurück: „Die sogenannte Sowjetmentalität ist … nichts anderes als die langanhaltende Gewohnheit, die Verantwortung zu delegieren, anstatt selber zu entscheiden.“ Den Homo Sovieticus und seinen Identitätsverlust nach dem Zerfall der Sowjetunion in den 1990ern skizziert Assejew ausführlich. „Wir haben damals gesiegt und wir werden auch jetzt siegen“, steht auf einem Wandgemälde, das den sowjetischen Kampf gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg und den Krieg im Donbass in eins setzt.

Krieg als psychische Drangsal und permanenter Ausnahmezustand schildert Assejew eindringlich. Nach Ende von Artilleriebeschuss bekommt er Kopfschmerzen. Auf einer Anhöhe stehend blickt er auf das ausgestorbene Donezk. „Vom Flughafen hört man vereinzelte Schüsse und ist allein.“

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