Jetzt aufnehmen statt abwehren

Die östlichen EU-Staaten rechnen mit über 1,5 Millionen Flüchtlingen – keines der Länder hat Erfahrung mit solchen Größenordnungen. Deutschland will Ukrai­ne­r*in­nen die Einreise unkompliziert ermöglichen

24. 2. 2022, Kiew, Ukraine: Autos stauen sich, während die Menschen die Stadt verlassen Foto: Emilio Morenatti/ap/dpa

Von Christian Jakob
und Konrad Litschko

Es dauerte nur rund zwei Stunden, da erschienen nach den ersten Bildern von der militärischen Attacke auf die Ukraine am Donnerstagmorgen auch erste Aufnahmen von Flüchtlingskonvois: An einem Grenzübergang zur Slowakei etwa stauten sich Autos mit Menschen, die vor Russlands Angriff fliehen. Eine der großen Fragen lautet: Wie viele werden es noch – und wohin können sie gehen?

Seit Mai 2017 dürfen die rund 44 Millionen Ukrai­ne­r:in­nen ohne Visum für 90 Tage in die EU einreisen. Allerdings brauchen sie dazu einen biometrischen Pass. Seit dessen Einführung 2015 wurden jedoch nur rund 19 Millionen dieser Pässe ausgestellt.

Vier EU-Staaten grenzen direkt an die Ukraine: Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien. In allen bereitet man sich auf Ankünfte vor. Wegen der ähnlichen Sprache dürfte Polen für viele Flüchtende erste Wahl sein.

Alle westlichen Nachbarstaaten der Ukraine sind für ihre restriktive Flüchtlingspolitik bekannt. Statt Flüchtlinge abzuwehren müssen sie sich auf deren Aufnahme und Versorgung vorbereiten – für die Verwaltungen dort völliges Neuland.

„Wir haben Maßnahmen ergriffen, um auf eine Welle von bis zu einer Million Menschen vorbereitet zu sein“, sagte Polens stellvertretender Innenminister Maciej Wąsik vor einigen Tagen dem polnischen Rundfunk.

Das Land, das eigentlich gerade mit Hochdruck an einer Anti-Flüchtlings-Mauer an der Grenze zu Belarus arbeitet, hat angekündigt, bis zum Nachmittag neun Aufnahmestellen für Flüchtlinge aus der Ukraine fertigzustellen. Sie sollen an den Grenzübergängen Hrebenne, Zosin, Sławatycze, Dorohusk, Korczowa, Medyka, Budomierz und Krościenkor entstehen. Dort sollen den Angaben zufolge medizinische Hilfe, Wasser, Nahrungsmittel verteilt, Ankommende in Quartiere im Landesinnern weiterverteilt werden.

Doch die gibt es noch gar nicht. Normalerweise werden Flüchtlinge nach Ankunft in Polen in geschlossene Internierungslager gesperrt. Das dürfte den Ukrai­ne­r:in­nen erspart bleiben. Die Lager sind ohnehin noch überfüllt mit den über Belarus eingereisten Schutzsuchenden. „Die existierende Infrastruktur ist ungeeignet“, sagt der Logistikexperte Stefan Lehmeier vom International Rescue Committee.

Die Regierung hatte die Kommunalverwaltungen aufgerufen, zu prüfen, wie viele Übernachtungsplätze sie für Flüchtlinge zur Verfügung stellen könnten. Der Kommunalverband Union der polnischen Metropolen hat die Regierung gebeten, die entsprechende Rechtsgrundlage für die Aufnahme von Flüchtlingen in den Städten zu schaffen. Viele Städte hatten schon früher angeboten hatten, Flüchtlinge aufzunehmen, das war aber von der Regierung vehement abgelehnt worden.

Polen dürfte nun versuchen, Turn- und Lagerhallen in Flüchtlingsunterkünfte umzuwandeln, womöglich müssten für die Erstaufnahme auch Zeltlager errichtet werden. „Wenn man das noch nie gemacht hat, ist es sehr schwierig, so etwas in großem Maßstab zu koordinieren“, sagt Lehmeier. „Wenn so ein Prozess chaotisch abläuft, ist es auch schwierig für externe Akteure wie die EU oder NGOs, sich in den Prozess einzubringen.“ Hilfreich sein könnte etwa ein Teil der in Polen stationierten US-Soldaten. Deren Spezialgebiet ist es, schnell Infrastruktur für humanitäre Hilfe aufzubauen.

„Wir werden unsere Nachbarländer ­– vor allem Polen – massiv unterstützen, sollte es zu Fluchtbewegungen kommen“, sagte auch Bundesinnenministerin Nancy ­Faeser (SPD). Sie kündigte an, humanitäre Hilfen dorthin zu liefern. Im Gespräch waren etwa Lieferungen von Medizin, Nahrungsmitteln oder Notstromaggregaten. In Polen leben bereits rund 2 Millionen Ukrainer:innen, die meisten kamen erst nach dem Krimkonflikt 2014 ins Land. Viele dürften nun versuchen, Verwandte nachzuholen und sie privat unterzubringen.

„Wir können ein leicht erhöhtes Verkehrsaufkommen an den Grenzübergängen zur Ukraine feststellen, wir gehen davon aus, dass es im Laufe des Tages zunehmen wird“, sagte ein Beamter des slowakischen Innenministeriums der Agentur Reuters. Die Slowakei sei auch bereit, Menschen einreisen zu lassen, die nicht alle erforderlichen Dokumente bei sich haben.

Ungarn hatte in den vergangenen Tagen angekündigt, Militär in die Grenzregion zu schicken. „Die ungarischen Streitkräfte haben zwei Aufgaben: zum einen humanitäre Hilfe zu leisten und zum anderen die Grenzen Ungarns zu schließen und dafür zu sorgen, dass keine bewaffnete Gruppe nach Ungarn eindringen kann“, sagte der ungarische Verteidigungsminister Tibor Benkő. Man rechne mit „mehreren Zehntausend“ Flüchtlingen.

Rumänien richte sich auf bis zu 500.000 Flüchtlinge ein, sagte Verteidigungsminister Vasile Dîncu am Dienstag. „Es gibt einen Plan für alle großen Städte, es gibt Gebiete in Grenznähe, die dafür vorgesehen sind.“

Auch in Deutschland bereitet man sich auf ukrainische Geflüchtete vor. Verlässliche Prognosen gebe es noch nicht, sagte Faeser. Derzeit sehe man noch „keine großen Fluchtbewegungen“. Man sei aber „intensiv auf alle denkbaren Szenarien vorbereitet“. Am Donnerstagmorgen hatten sich Faeser und die Lan­des­in­nen­mi­nis­te­r:in­nen zusammengeschaltet, später tagte sie mit Scholz im Sicherheitskabinett, in dem auch Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und Außenministerin Annalena Baerbock sitzen. Nach taz-Informationen wurde in den Runden besprochen, die visafreien Einreisen von Ukrai­ne­r:in­nen nach Deutschland zu verlängern und ihnen „vorübergehenden Schutz“ nach Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes zu gewähren. Das würde Asylverfahren überflüssig machen. Diskutiert wurde auch, geflüchtete Ukrai­ne­r:in­nen dennoch Leistungen nach dem Asylrecht zu gewähren und für sie das Arbeitsverbot aufzuheben. Sie würden nach einem festen Schlüssel auf die Bundesländer verteilt.

Zudem stoppten mehrere Bundesländer Rückführungen ausreisepflichtiger Ukrainer:innen. Entsprechende Anweisungen ergingen an die Ausländerbehörden, sagte etwa Christian Pegel (SPD), Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern. „Das gilt bis auf Weiteres, auch für bereits geplante Maßnahmen.“

Die deutschen Bundesländer wurden zudem aufgerufen, Unterkunftsmöglichkeiten zu melden. Gerechnet wurde vorerst aber damit, dass geflüchtete Ukrai­ne­r:in­nen zunächst hiesige Verwandte oder Bekannte aufsuchen könnten. Laut Statistischem Bundesamt leben bereits heute 331.000 Ukrai­ne­r:in­nen in Deutschland.

Pro Asyl und Campact riefen dazu auf, auch in Deutschland uk­rai­ni­schen Geflüchtete großzügig aufzunehmen. „Die Europäische Union muss ihre Grenzen nach Osten öffnen und ihre Zäune, vor allem in Polen und Ungarn, abbauen“, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, der taz. Für Geflüchtete aus der Ukraine brauche es „schnelle und unbürokratische Hilfen“, auch Deutschland müsse sich zu Aufnahmen verpflichten. Burkhardt appellierte zudem, auch Geflüchtete aus anderen Krisenregionen wie Afghanistan, die sich momentan in der Ukraine oder Belarus befänden, nicht zu vergessen. „Auch für sie braucht es jetzt eine Lösung und konkrete Hilfen. Wir brauchen in Osteuropa eine Rückkehr zur Einhaltung von Menschenrechten und Europarecht.“

Mitarbeit: Gabriele Lesser