Fedir Tetianychs Kunst in Kiew in Gefahr: Lokaler Mystizismus
Fedir Tetianych war ein Vertreter der ukrainischen Avantgarde. Seine Familie versucht seine Werke aus Kiew zu retten.
An manchen Tagen tauchte plötzlich eine sagenhafte Gestalt auf dem Andrijiwskyi Uswis, dem Kiewer Andreasstieg, auf. Sie trug langes Haar und einen langen Bart, ein wildbuntes Kostüm aus Abfall und Goldfolie. Einen metallischen Zylinder, durch den eine Drahtkontraption gezogen wurde, die bei jedem Schritt ordentlich schepperte. Unmöglich, sich dem Auftritt dieses schillernden Zaubermeisters zu entziehen. Die Leute drehten sich zu ihm um, und dann begann er zu lesen: „Rein und pur, rein und schön. Weich wie eine weiße Lilie – Zivilisation mit dem Bewusstsein eines Trottels.“ Eine Art Manifest, irgendwo zwischen Erweckungsrede, Fluxus und Dada.
Fedir Tetianych hieß der ukrainische Künstler, der seit den 1960er Jahren Farbe in die „oft finstere und graue Sowjet-Realität brachte“, wie sein Sohn Bohdan erklärt. Der Andreasstieg, eine der ältesten Straßen Kiews im Stadtteil Podil, zählte zu den Lieblingsorten seines Vaters. Daneben wirkte er aber auch in Galerien und in Häusern befreundeter Künstlerinnen und Künstler. Tetianych nahm an Happenings und Performances teil, zählte sich aber nicht zu einer bestimmten Gruppe oder Bewegung. Meist blieb er randständig, schaffte ungezählte Zeichnungen, Aquarelle, großformatige Malerei, Assemblagen und Installationen. Fotos aus der Atelierwohnung zeugen vom dionysischen Schaffensdrang. Überall hängt, liegt und steht die Kunst.
Und er verschönerte Kiew noch auf andere Weise: Im gesamten Stadtgebiet befanden sich Arbeiten des Künstlers, die man im Deutschen als Kunst am Bau bezeichnen würde. Auch hier bediente sich Tetianych vorzugsweise vorgefundener Materialien. Großflächige Mosaike, Reliefs und Skulpturen hat er geschaffen. Zu den bekanntesten Formen zählten seinerzeit die „Biotecnospheres“, Teil einer futuristischen Utopie, in der Wohnen, Transport und Notfallversorgung in einem Modul zusammenkommen.
Eine dieser raumschiffartigen Skulpturen befand sich auf dem Dach des inzwischen demolierten Hotel Russia, nur eine der ironischen Fußnoten der Geschichte, wie sein Sohn anmerkt. Etliche Arbeiten wurden in den turbulenten 1990er und 2000er Jahren zerstört, aber einige sind bis heute (man muss wohl aktuell sagen: noch) Teil des Kiewer Stadtbilds, beispielsweise am Polytechnischen Institut.
Welche Menschen, welche Werke und Ideen erinnert die Kunstgeschichte, zumal die westliche? Fedir Tetianych alias Frypulia, wie sein Künstlerpseudonym lautete, wurde 1942 geboren und hat viele Jahrzehnte in unterschiedlichen Medien, Formaten und an vielen Orten in- und außerhalb des Kunstsphäre gewirkt, bevor er 2007 verstarb. Nikita Kadan, der zur Generation zeitgenössischer Künstler:innen in der Ukraine zählt und der Tetianychs Werk sehr schätzt, bezeichnet ihn als Kosmisten.
In der Tat scheinen sich in diesem Werk gedanklich wie ästhetisch lokaler Mystizismus und universelle Überlegungen zum Menschsein, Ökologie und Kunst, DIY und Monumentales zu verschränken. In den letzten Jahren wurde Tetianych auch in den neuen Ausstellungshäusern des noch jungen Staates präsentiert, Aufsätze befassen sich mit seiner Einordnung. Seine Arbeiten befinden sich bis heute in einer Kiewer Wohnung.
„Eigentlich möchte ich gar nicht hier weg, eigentlich möchte ich bleiben,“ sagt Bohdan Tetianych. Die Schwester ist bereits mit ihrem Neffen vorbeigekommen, man schläft gemeinsam auf dem Fußboden, nah an der Tür, damit man im Bedarfsfall schnell fliehen kann. Beide sorgen sich ums väterliche Oeuvre. Seit die Bombeneinschläge näherkommen, die Tage finsterer und Putins Zerstörungswut offenkundig, überlegt der Sohn, sich und seine Familie an einen anderen Ort zu bringen. „Jetzt muss ich über die Evakuierung des Werks meines Vaters nachdenken, mit allen daraus folgenden Konsequenzen.“
Bohdan Tetianych hat Inventarlisten angefertigt, sich mit Fotos und Dokumenten einen groben Überblick verschafft, um das Archiv in etwa beziffern zu können. Er hofft auf Kulturinstitutionen oder andere Engagierte, die ihm helfen, die Arbeiten außer Landes zu bringen: „Ich möchte sie nach Kriegsende nach Kiew zurückbringen, sie gehören nicht nur den Ukrainer:innen, sondern der gesamten Menschheit.“ Auch Kadan und andere ukrainische Künstlerinnen und Künstler versuchen, zu vermitteln. Viele Anfragen blieben bisher unerhört.
„Wir sehen leider momentan überhaupt keine Möglichkeit, Kunstwerke aus der Ukraine sicher zu transportieren oder sicher in der Ukraine zu lagern“, sagt Rainald Schumacher, der die Art Collection der Deutschen Telekom kuratiert, die sich osteuropäischen Perspektiven verschrieben hat. Eine Ausfuhr – falls sie überhaupt gelänge unter den gegebenen Umständen – sei mit hohem organisatorischen Aufwand und strengen Zollkontrollen verbunden, um Kunstraub vorzubeugen.
Die nötigen offiziellen Papiere zusammenzustellen sei derzeit wohl kaum möglich. Davon seien auch Werke ukrainischer Künstlerinnen und Künstler aus der eigenen Sammlung betroffen. „Wir können nur hoffen, dass der Krieg nicht alles oder vieles zerstört.“
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