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Theaterregisseur über Solidarität„Wenn man in den Abgrund schaut“

Es sterben weiter Menschen im Mittelmeer. Das thematisiert Andreas Merz-Raykov im Theater. Ein Gespräch über das Hinsehen und verlorene Solidarität.

Porträt des Regisseurs Andreas Merz-Raykov Foto: Olga Slotina
Astrid Kaminski
Interview von Astrid Kaminski

„Finsternis“ ist die Theaterfassung des italienischen Autors Davide Enia zu seinem Roman „Schiffbruch vor Lampedusa“ (Wallstein 2019). Der italienische Autor setzt sich darin der Möglichkeit und Unmöglichkeit aus, als Künstler eine Position zum Sterben im Mittelmeer einzunehmen. In Berlin inszeniert Andreas Merz-Raykov, der auch in Russland schon als Regisseur gearbeitet hat, den Text am kleinen Theater TD Berlin (Premiere am 25. Februar).

taz: Andreas Merz-Raykov, „Keine Zeit für Kunst“, würden Sie sich diesem Motto der Dokumentartheatermacherin Laila Soliman anschließen?

Andreas Merz-Raykov: Ich würde das vor dem Hintergrund der Pandemie versuchen umzudrehen: endlich Zeit für Inhalte. Ich habe in den letzten Jahren viel in deutschen Stadttheatern sowie auch in Russland inszeniert. Oftmals werde ich mit einem fiktionalen, klassischen Theaterstück beauftragt, dessen Inhalt ich versuche mit den gesellschaftlichen Themen vor Ort zu verbinden, um eine Relevanz zu erzeugen. Nun gehen wir von der anderen Seite ran. Also nicht: Theater XY fragt, ob ich einen Text von zum Beispiel Dostojewski inszenieren will, und ich frage mich, was daran eigentlich aktuell ist, sondern ich fange bei dem an, was mich am meisten beschäftigt.

2020 war es das Stück „Insulted Belarus“ von Andrei Kureichik, als Online-Lesung inszeniert, ein Text zur politischen Situation in Belarus.

Dieser Text, der im Zuge der belarussischen Proteste entstand, hatte eine ziemlich Odyssee hinter sich: Er wurde über Minsk, Kiew und Moskau an meine Frau und mich herangetragen. Wir konnten das Stadttheater Augsburg dafür gewinnen. Es war eine neue und sehr starke Erfahrung für uns, aus der Fiktion auszusteigen und einen Text zur Debatte zu stellen, der uns unmittelbar in eine politische Realität bringt. Mit dem aktuellen Stück „Finsternis“ über die humanitäre Lage im Mittelmeer knüpfen wir an diese Erfahrung an.

Olga Slotina
Im Interview: Andreas Merz-Raykov

hat am Bayerischen Staatsschauspiel in München und an der Volksbühne Berlin gearbeitet. Seit 2011 inszeniert er als freier Regisseur vor allem in Deutschland und Russland.

Sie wurden mehrmals für den nationalen russischen Theaterpreis Goldene Maske nominiert. Wie politisch kann man als Künstler sein, der in Russland öffentlich gewürdigt wird?

Man muss anders politisch sein, viel mit Blitzableitern und Flaschenpost arbeiten. Die Schau­spie­le­r:in­nen sind handwerklich fantastisch ausgestattet, haben in der Breite hervorragende Qualitäten; was ich in Russland im Theater jedoch massiv erlebt habe – auch in anderen Staaten des Ostens –, ist Selbstzensur. Diese unglaubliche Angst: Wenn wir das oder jenes machen, bekommen wir weniger Geld. Zum Beispiel habe ich in Omsk in der Inszenierung von „Trauer muss Elektra tragen“, worin es um den amerikanischen Bürgerkrieg geht, eine amerikanische Flagge platzieren wollen. Das wurde mir als zu gefährlich ausgeredet. Aus Angst, dass im Nachhinein das Budget zusammengestrichen wird.

Diese Angst ist real: Ich habe einmal ein Theater mit einer Inszenierung von Shakespeares „Was ihr wollt“ in den Ruin getrieben. Das war noch nicht einmal wirklich politisch, aber es ging, weil das im Stück eben so ist, um fluide Sexualität. Im Publikum saß die Kulturministerin von Krasnojarsk, das ist in Zentralsibirien, und sie fand die Darstellung homosexuellen Begehrens unmöglich. Daraufhin musste das Theater die gesamte Fördersumme zurückzahlen. Vieles läuft über Geld.

Würde das im Umkehrschluss heißen: Solange sie ohne Fördergelder arbeiten, können Sie vieles machen?

In Russland zu arbeiten ist sehr, sehr, sehr schwierig. Vor allem darum, weil nichts so eindeutig ist. Alles kann willkürlich sein. Es gibt Gesetze, aber keine Gewissheit, wie sie auszulegen sind, keine Rechtssicherheit. Darum gibt es so viel Selbstzensur, aus Angst etwas falsch zu machen. Es hat mir auch mal ein Theaterleiter gesagt, es gäbe kein Theater, das keine Gelder unterschlägt. Wenn man keine Gelder unterschlage, könne man seine Leute nicht zahlen. Du musst etwas Illegales machen, um zu bestehen. Das weiß der Staat. Und so hat er ein Druckmittel.

Sehen Sie Theater, aus diesen Erfahrungen heraus, als eine demokratische Institution, um einer politischen Vision, im Rahmen des Respektierens der Menschenrechte, Raum zu verleihen?

Was ich nicht mag, ist eine Art Parteitagstheater, wo Leute hingehen, um sich ihre Meinungen auf der Bühne erzählen zu lassen und dann zu klatschen. Was Theater kann, ist einen Diskussions- und Denkraum schaffen. Theater sollte anders funktionieren als Medien. Der Tag, an dem wir dieses Gespräch führen, steht für den russischen Einmarsch in die Ostukraine. Indem wir uns künstlerisch dem Thema Mittelmeer widmen, sind wir total neben der Konjunktur. Deutschland hat den Titel als Willkommensweltmeister ja schon gewonnen. Das Schlimme ist nur: Auch wenn niemand hinschaut: Es passiert. Es ertrinken weiter Menschen im Meer.

In der Ankündigung zum Stück schreiben Sie, das Nichtstun bezüglich der Mittelmeer-Situation sei wie eine Krankheit, die unser Zusammenleben tiefgreifender bedrohe als jede Migration es jemals könne. Wie krank ist die Gesellschaft?

Der Gedanke, den ich damit versuche zu formulieren, kommt aus einer Begegnung, die ich in Tel Aviv hatte. Ich habe mich mit einem Schauspieler unterhalten, der früher Soldat war. Im Einsatz musste er in Ostjerusalem Türen eintreten und Leute bedrohen, um angebliche Terroristen zu suchen. Er war mit diesem Einsatz innerlich nicht einverstanden. Im Gespräch sagte er: „Meinst du nicht, dass es etwas mit einer Gesellschaft macht, wenn sie jahrelang Dinge zulässt, hinter denen sie eigentlich nicht stehen kann? Wenn sie wegschaut?“ Und das tun wir die ganze Zeit.

Der Roman von Davide Enia, aus dem das Theaterstück „Finsternis“ entstanden ist, widmet sich dem Hinschauen sowie auch der Frage, ob er das darf.

Er zeigt, was passiert, wenn man hinguckt. Wenn man in den Abgrund schaut. Wenn man sich in die Nähe begibt jener Menschen, die Schreckliches erleben: „Geflüchtete, aber auch Hel­fe­r:in­nen und Anwohner:innen“, sei es freiwillig oder unfreiwillig – es sind ja auch viele Menschen einer Zeugenschaft ausgeliefert, die sich das gar nicht ausgesucht haben. Sie leben plötzlich an einer Sollbruchstelle und müssen damit umgehen. Auch Davide Enia legt nahe, dass das Nichthingucken keine Lösung ist, dass auch das Verdrängte Einfluss auf unsere Gesellschaft hat, sie wie eine Krankheit von innen angreift. Wir sehen es doch: Wir sind weniger solidarisch, weniger tolerant geworden, wir zerfallen als Gesellschaft in ein „Wir-und-die-Denken“. Das ist Gift und das hat Konsequenzen.

Die Aufführungen

Finsternis nach „Schiffbruch vor Lampedusa“ von Davide Enia, Premiere 25. Februar 2022, 20:00 Uhr im TD Berlin, weitere Aufführungen 26. / 27. Februar 2022, 20:00 Uhr. Mehr https://td.berlin/stuecke/finsternis-1

Davide Enia schreibt auch über die Genese des Stücks. Der deutsche Schriftsteller Albert Ostermeier habe ihn, unter der Voraussetzung „sich ein wenig unter Geflüchteten umzuhören“, auf ein deutsches Literaturfestival eingeladen. Wie gehen Sie mit der Gefahr um, humanitäre Katastrophen auszunutzen, um Kunst Relevanz zu verleihen?

Die Stelle, die Sie erwähnen, finde ich total toll, unglaublich ehrlich. Sie beschreibt, wie naiv der Autor erstmal an die Sache rangeht. Er sagt: Gut, ich fahr’ nicht nach Neapel, ich fliege nach Lampedusa. Da habe ich Freunde, da wollte ich schon immer mal hin… Und dann schreibt er, ein Autor, der eigentlich lustige Sachen mag, der sich gerne mit Fußball beschäftigt, keinen kurzen Essay zum Thema, sondern einen Roman. Daraufhin entscheidet er, dass das nicht reicht und macht aus seinem Roman eine Spielfassung, die er selbst als Schauspieler spielt, und mit der er dann durch ganz Italien tourt. Er kommt zu dem Schluss, dass Reden für ihn eine Strategie ist.

Darum geht es auch für uns: Mittel zu finden – auch wenn wir die Gewissheit noch nicht haben, dass es die richtigen sind –, um gesellschaftlich zu einem Dialog beizutragen, so dass wir irgendwann dahin kommen, zu sagen: Nein, wir wollen nicht mehr, dass sich Menschen in diese Gefahr begeben, nein, wir wollen nicht mehr, dass Geld an Staaten geht, die gegen Menschenrechte verstoßen, um Geflüchtete zurück zu halten. Das ist ein Widerspruch, mit dem wir noch lange nicht fertig sind.

Sie spenden einen bedeutenden Teil der Einnahmen Ihres geförderten Theaterstücks an Sea-Watch, jenem Seenotretterverein, für den auch die Kapitänin Carola Rackete fuhr. Ist das eine Umleitung, also mit Kunstförderung politisches Versagen zu korrigieren?

Vielleicht ist es ein naiver Gedanke, zu sagen: Wir wollen nicht nur über etwas reden, sondern auch ein Mindestmaß an Konsequenz erzeugen, eine Art Ablass-Handel. Wir folgen keinem ausgeklügelten Konzept, wie man Fördergelder umleitet, um politische Ziele zu erreichen. Ich denke, was Sea-Watch tut, ist primär nicht etwas besonders Politisches, sondern etwas humanitär Notwendiges, und auch nicht, weil es besonders toll ist, so etwas tun zu müssen. Sondern weil sonst niemand mehr die Leute vor dem Ertrinken rettet, weil das ja „einen Fluchtanreiz schaffen würde“. Es geht hierbei also nicht um ein politisches Konzept, es geht um das Retten von Leben, die in Gefahr sind, jenseits aller politischen Überzeugungen.

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