: Ein Ende der Unterwerfung
Algeriens Gesellschaft ist von Sexismus geprägt. Junge Feministinnen wie Lyna Lamiri nehmen dies nicht mehr hin
Aus Algier, Algerien Redha Menassel
Es war in ihrer Schulzeit, auf dem Gymnasium Said Hamdine, in Algiers Stadtteil Hydra, wo Lyna Lamiri schon früh der ganz gewöhnliche Sexismus ihrer Gesellschaft bewusst wurde. „Die Jungs nannten uns Huren, egal aus welchem Anlass. Sie sexualisierten uns, wenn wir eine Banane, ein Eis oder sogar ein normales Sandwich aßen“, sagt Lamiri heute.
Als sie begann, den Körper einer jungen Frau zu haben, litt sie unter Belästigungen auf der Straße. „Jedes Mal, wenn ich ausging, machten die Leute Bemerkungen über mein Aussehen oder die Art, wie ich mich kleidete.“ Dass es dafür später ein Wort geben sollte – „Catcalling“ – wusste sie da noch nicht. Sie sah obszöne Gesten, hörte Beleidigungen, Pfiffe, das Schnalzen mit der Zunge, oder das Hupen von Autos. Diese Erfahrungen, sagt Lamiri, hätten sie in ihrem „Körper gefangen gehalten“ und ihre „eigene Abwertung kultiviert“.
Doch Sexismus macht nicht bei Pfiffen Halt. 2021 sind mindestens 50 algerische Frauen durch die Hand eines Ehemanns, eines Bruders oder eines Liebhabers gestorben. Die Covidpandemie, die soziale Enge, hat die häusliche Gewalt gegen Frauen jeden Alters und jeder sozialen Schicht noch verstärkt.
Am Ende des Jahres sitzt Lyna Lamiri, heute 24 Jahre alt, im Hotel „El Djazair“ in Algier, eine zierliche Frau, anfangs etwas schüchtern. Aber im Laufe des Gesprächs offenbart sie eine beeindruckende Charakterstärke. Sie arbeitet bei „Féminicides Algérie“, einem feministischen Projekt, das Frauenmorde erfasst, weil der Staat bei dieser Aufgabe versagt. „Wir wollen den algerischen Frauen helfen, sich nicht mehr schuldig zu fühlen für das, was ihnen widerfährt“, sagt Lamiri. „Deshalb erinnern wir daran, dass der Angreifer immer der Schuldige ist und niemals das Opfer.“
Algeriens Sicherheitsbehörden haben 2019 landesweit rund 5.000 Fälle von Gewalt gegen Frauen festgestellt. „Diese offiziellen Zahlen entsprechen bei Weitem nicht der Realität“, sagt Lamiri. „Sie enthalten nur die Fälle, in denen Frauen den Mut hatten, Anzeige zu erstatten.“ Féminicides Algérie will die allgemeine Gleichgültigkeit nicht hinnehmen. Die Frauen beschlossen, sich zu organisieren und die Gewalt anzuprangern. „Als algerische Frauen sind wir fast alle dazu erzogen worden, Rivalinnen zu werden, anstatt Solidarität untereinander zu schaffen“, sagt Lamiri. Doch diese Solidarität sei Voraussetzung für den Kampf gegen geschlechtspezifische Gewalt.
In den sozialen Medien hat Féminicides Algérie einen Zeugenaufruf veröffentlicht. Sie prüfen Nachrichten in den lokalen Zeitungen, reisen zu den Familien, wenn es möglich ist, und führen selbst Statistiken. „Wir arbeiten daran, frauenfeindliche Verbrechen, die in Algerien zynisch als ‚Ehrenverbrechen‘ bezeichnet werden, aufzudecken“, sagt Lamiri. Über diese werde zu wenig gesprochen. Es herrsche ein „schrecklicher Mangel an Studien und Kommunikation“ über diese Gewalt gegen Frauen, die immer alltäglicher werde.
Lamiris feministische Überzeugungen und ihr Kampfgeist gehen auf ihre Kindheit zurück. Sie wuchs in einer Familie auf, die sie als sehr aufgeschlossen beschreibt. Ihr Vater war ein renommierter Wirtschaftsprofessor, ihre Mutter Ärztin im Krankenhaus. Sie berichtet von einer Situation, die sie in ihrer frühen Jugend sehr geprägt hat. „Ich stand einer Nachbarin sehr nahe, die aus einer sehr konservativen Familie stammte. Als sie einmal von der Schule kam, erwischte ihr Bruder sie dabei, wie sie einem Jungen die Hand schüttelte und unschuldig mit ihm plauderte.“ Einige Monate später musste sie, um an einer Beerdigung teilnehmen zu können, ihr Haar bedecken, wie es die Tradition verlangt. Eine Woche später traf Lamiri sie wieder. Das Kopftuch trug sie immer noch. „Mein Vater will nicht, dass ich es abnehme“, sagte sie. „Er findet, ich bin alt genug, um es zu tragen.“ Die Freundin war da erst 13 Jahre alt.
Auch danach geschahen ständig Dinge, die Lamiri wütend machten. Sie holt tief Luft, als sie davon erzählt. „Ich war empört, als ich sah, wie qualifizierte Frauen darauf reduziert wurden, Hausarbeiten zu erledigen, ihr Berufsleben zu opfern, um sich um die Kinder zu kümmern, den Männern bei den Mahlzeiten den Vortritt zu lassen.“ All diese kleinen, alltäglichen Gesten der Unterwerfung, die den meisten algerischen Frauen nicht einmal mehr auffallen, machten sie wütend.
Lyna Lamiri, Aktivistin
Der öffentliche Raum in Algerien – Cafés, Spielplätze, öffentliche Plätze – gehört hauptsächlich den Männern. „Frauen werden im besten Fall geduldet.“ Ebenso wenig mochte Lamiri hinnehmen, dass Frauen den Hidschab aufsetzen, um nicht die Blicke der Männer auf sich zu ziehen und deren Begehren zu wecken. „Denn das impliziert, dass der Körper der Frau unrein ist und versteckt werden muss“, sagt Lamiri, die ihre langen braunen Haare offen trägt.
Als sie 21 war, ging Lamiri nach Frankreich, um ihr Studium fortzusetzen. „Als ich nach Paris kam, konnte ich mich feministischen Aktivistinnen an meiner Hochschule anschließen.“ Das half ihr, ihr „Denken zu erweitern“ und die „psychotraumatischen Folgen von Gewalt gegen Frauen besser zu verstehen“, sagt sie. Besonders inspiriert hätten sie die Studien von Muriel Salmona, einer französischen Psychiaterin, die zu Traumata forscht.
All das gab Lamiri die Kraft, nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat mit Féminicides Algérie eine Plattform mit aufzubauen, um von den Femiziden zu berichten. „Wir wollen, dass Frauen endlich frei über dieses Thema sprechen können, das in Algerien immer noch ein Tabu ist.“ Der nächste Schritt dazu werde sein, das Bewusstsein für sexuelle Belästigung auf der Straße und am Arbeitsplatz sowie geschlechtsspezifische Gewalt zu schärfen.
Ein wichtiger Zwischenschritt dabei: dass in der öffentlichen Debatte nicht länger von „Ehren-“, sondern von Frauenmorden gesprochen wird. Lamiri glaubt, dass sie diesem Ziel näher kommen. „Im vergangenen Oktober haben zwanzig algerische Schauspielerinnen zum ersten Mal gemeinsam posiert, um dieses Phänomen anzuprangern. Noch vor ein paar Jahren war dies undenkbar.“
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