Historische Zeitungen online: Digitalisiert unsere Vergangenheit

Im Internet gibt es 24 Millionen historische Zeitungsseiten aus Österreich kostenlos zu lesen. Doch in Deutschland sperrt man sich gegen Transparenz.

Eine Ausgabe der Nazi-Zeitung "Völkischer Beobachter"

Online nicht zu lesen: die Ausgaben des deutschen NSDAP-Parteiorgans „Völkischer Beobachter“ Foto: David Ebener/ dpa

Eine österreichische Zeitung berichtete 1946 über das Gerichtsverfahren gegen den Bahnbeamten Adolf Bier: „Bier war ein gehässiger Scharfmacher, der Andersgesinnte schlecht behandelte und sekkierte. Als eifriger Schürzenjäger verfolgte er die Frauen der Schaffnerinnenschule, die er zu überwachen hatte, mit unsittlichen Anträgen.“

Der Blutordensträger Bier war ein österreichischer Nationalsozialist der ersten Stunde, dessen sexuelle Eskapaden sogar seinen NS-Vorgesetzen zeitweise zu viel wurden. Er war ein kleiner Fisch und niemand würde heute noch seinen Fall recherchieren können, wenn es nicht ANNO gäbe.

Karina Urbach ist Historikerin an der Universität London. Zuletzt erschien von ihr: „Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten.“

ANNO (AustriaN Newspapers Online) ist ein digitales Wunderwerk, das es möglich macht, kostenlos im Internet 24 Millionen historische Zeitungsseiten aus Österreich einzusehen. ANNO ist ein Geschenk für jeden geschichtlich Interessierten. Und das Projekt hat Nachahmer. Neben den Österreichern machen es uns auch die Briten, Franzosen und Amerikaner möglich, ihre alten Zeitungen digital einzusehen.

Nur Deutschland sperrt sich gegen diese Transparenz. Wenn man zum Beispiel den Völkischen Beobachter (eine für Historiker doch recht wichtige Zeitung) lesen will, muss man sich einen coronakonformen Platz in der Bibliothek erkämpfen und dann auf uralte Mikrofilme starren, die selbst 20-jährigen Studenten die Augen ruinieren.

Bis heute nicht digitalisiert

Nicht nur Nazizeitungen, auch teilweise nazikritische Zeitungen wie die Münchner Neuesten Nachrichten sind bis heute nicht digitalisiert. Dabei kann man aus den Münchner Neuesten Nachrichten viel über die schmutzigen Interna der bayerischen Nationalsozialisten erfahren. Warum also werden deutsche Zeitungen der NS-Zeit nicht digitalisiert? Wer soll hier – nach 80 Jahren – noch geschützt werden?

Wenn man sich den Anzeigenteil des Völkischen Beobachters ansieht, kommt ein vager Verdacht auf. Hier inserierten lokale Firmen und Gaststätten, die bis heute gut florieren. Sie unterstützten die NSDAP schon lange vor der Machtergreifung. Man erfährt zum Beispiel, dass die Münchner Modefirma Lodenfrey 1930 den nationalsozialistischen Lesern einen Ausverkauf bot und dass die Münchner Gast- und Vergnügungsstätte „Platzl“ gegenüber dem Hofbräuhaus auf nette NS-Gäste hoffte.

Ein mögliches Argument gegen die Digitalisierung deutscher Zeitungen könnte lauten, dass rechtsradikale Kreise davon profitieren würden. Dieses Argument wurde schon 2016 in einem anderen Fall benutzt. Damals gab das Institut für Zeitgeschichte eine kritische Edition von Hitlers „Mein Kampf“ heraus. Skeptiker befürchteten, Alt- und Neunazis könnte diese Edition ideologische Nahrung geben.

Am Ende war das Gegenteil der Fall. Selbst den überzeugtesten Hitlerverehrer werden Zweifel beschleichen, wenn er die Prosa seines Idols lesen muss. Auch die wirren Ideen des Völkischen Beobachters zu studieren, ist kein Vergnügen. Darüber hinaus gibt es die Ausgaben von 1938 bis 1945 sowieso schon digital.

Wiener Variante des Völkischen Beobachters

Als Hitler 1938 seine Heimat „anschloss“, wurde eine Wiener Variante des Völkischen Beobachters publiziert und die wiederum macht uns ANNO zugängig. In der ersten Ausgabe am 16. März 1938 wird Wien zur „glücklichsten Stadt der Welt“ erklärt, und man erfährt auch gleich, welche Wiener Firmen jetzt sofort im Völkischen Beobachter ihre Dienste annoncieren.

Das erklärte Ziel von ANNO ist es, zur „Idee einer Informationsgesellschaft für alle und zur Demokratisierung des Wissens“ beizutragen. Vielleicht kann man davon auch in Deutschland lernen?

Adolf Bier bestritt übrigens bei seinem Prozess im Januar 1946 alle Vorwürfe gegen ihn. Er bekam drei Jahre.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.