Der Wäschebote mit den heimlichen Hits

„Dreamworld“ von Benjamin Berton ist eine semi­fiktionale Biografie der britischen Band Television Personalities und ihres tragischen Helden Dan Treacy

Dan Treacy und Alan McGee an der Tür des Living Room Clubs, London 1984 Foto: Paul Groovy

Von Robert Mießner

So gehen Filme los: Ein 18-Jähriger in Bluejeans und Karohemd, über den Locken eine Lederkappe mit Nieten, trägt auf der Schulter ein Wäschepaket durch London. Wir schreiben das Punkjahr 1977, aber die Musik müsste aus den Sechzigern kommen, von Pink Floyd in der Originalbesetzung mit Syd Barrett natürlich: „See Emily Play“, nonchalanter Beat, Farfisa-Orgel, ein Gesang, dem nicht anzuhören ist, was noch kommen wird; es wäre Sommer, auch wenn der sich kaum blicken lässt. In der Nacht hat es geregnet, der klamme Morgen muss noch zu sehen sein. Der junge Mann ginge durch die Kings Road, vorbei an der Punkboutique von Malcolm McLaren und Vivienne Westwood, die nach mehreren Umbenennungen „Seditionaries“ heißt, „Aufrührer“.

Vor Kurzem hat der Wäschebote die Schule geschmissen, jetzt klingelt er an einem fürstlichen Haus und muss lange warten, bis ihm ein Mädchen in T-Shirt und Pyjama-Shorts öffnet. Er sagt: „Ich soll die Wäsche für Mr. Marley abliefern.“ Mr. Marley, das ist Bob Marley, der mit seiner Band, den Wailers, damals in London lebt, das Mädchen die Miss World 1976, Cindy Breakspeare. Unser Held hört auf den Namen Daniel ­Treacy, kurz Dan. Dass der Sohn einer Wäscherin und eines Bauarbeiters die Welt des Pop gerade nicht über den Dienstboteneingang betreten musste, dafür hat seine Mutter gesorgt. Es sind Rockstars wie Jimmy Page, die Mrs. Treacy ihre Klamotten anvertrauen.

Es werden Frauen mit so englischen Namen wie Emily Brown und Alison Wonderland sein, die Dan Treacy helfen, mit seiner Band, den Television Personalities, im Hinterzimmer des Pop Platz zu nehmen. Wie, auch davon erzählt der Franzose Benjamin Berton in seinem semifiktionalen Buch „Dreamworld“, an dessen Anfang die Wäschelieferung an Bob Marley und an dessen Ende ein Künstler ohne festen Wohnsitz steht. Berton hat bis jetzt zehn Romane verfasst, „Am Pool“ etwa hat auch in Deutschland hervorragende Rezensionen bekommen.

Die Frage, wie ein Schriftsteller an ein Musikbuch herangeht, lässt sich beim Lesen beantworten: Gut, dass es so einer getan hat. Berton schreibt klar als Fan, aber er hat en détail recherchiert und natürlich lässt er die Alben der Television Personalities Revue passieren: Singles wie „Where’s Bill Grundy Now?“ über den Fernsehmoderator, der über die Sex Pistols gestolpert war, das 1981 erschienene Albumdebüt „… And Don’t the Kids Just Love It“ bis hin zu „A Memory Is Better Than Nothing“ von 2010. Berton stellt heraus, was die Television Personalities und die mit ihnen verzweigten Bands so besonders machte: Sie hatten von Punk genug mitgekriegt, um zu wissen, dass es dabei um Spirit und nicht um einen orthodox eingehegten Sound ging.

Ein trauriges Buch über einen unbehausten Künstler? Nicht ausschließlich. Die Leute, sie mögen kleine sein; das Leben ist groß

Dan Treacy und seine Mitstreiter wie Jowe Head von den Swell Maps liebten psychedelischen Pop, die Kinks und Velvet Underground. Rockmusik, die experimentell sein durfte, aber nicht akademisch sein musste. Berton schreibt über den heimlichen Hit der Television Personalities, die Single „I Know Where Syd Barett Lives“, und wie Dan Treacy ausgerechnet im Vorprogramm von David Gilmour die Adresse des ehemaligen Pink-Floyd-Mitglieds bekannt gab, das ihm mehr am Herzen lag als sein Brötchengeber an diesem Abend.

Benjamin Berton schreibt aber nicht einfach über Songs und Konzerte. Er ist der Fan, der fabuliert und dabei ins Schwarze trifft. In „Dreamworld“ geht es darum, warum Leute zu Musikinstrumenten greifen, hinter einer Leinwand Platz nehmen oder Labels gründen. Weil sie es müssen! Das Label der Television Personalities Dan Treacy und Ed Ball hörte auf den Namen Whaam! Records, für Bands wie die Pastels und die Musikerin Tracey Thorn war es die Startbahn. Den von dem Pop-Art-Künstler Roy Lichtenstein entlehnten Namen ließ sich ­Treacy vom Management des aufstrebenden Duos Wham abkaufen. Mit dem Geld finanzierte Treacy sein zweites Label Dreamworld, das ein ungleich erfolgreicheres inspirierte: Creation von Alan McGee, der das auch zugibt.

Es deutet sich früh an und wird zur schmerzlichen Gewissheit, die Geschichte von Dan Treacy und den Television Personalities ist auch die einer ausgebliebenen, ja sogar tragischen Karriere. Es wäre taktlos, hier von einer verweigerten zu sprechen. Das ist es auch nicht, was Benjamin Berton tut, wenn er Daniel Treacy porträtiert, einen unbehausten Künstler, für dessen Angst früh gesorgt wurde und der zeitweilig keine feste Adresse, es sei denn das Gefängnis, angeben konnte. Ein trauriges Buch? Nicht ausschließlich. Die Leute, sie mögen kleine sein; das Leben ist groß.

Benjamin Berton: „Dreamworld. Oder vom fabelhafen Leben des Dan Treacy und seiner Band Television Personalities“. Aus dem Französischen von Gregor Kessler, Ventil Verlag, Mainz 2021, 277 Seiten, 22 Euro