Film „Bad Tales (Favolacce)“ im Kino: Der Planet der Kinder

Der Film „Bad Tales (Favolacce)“ der Brüder Damiano und Fabio D’Innocenzo spielt in einem Vorort. Kinder und Erwachsene trennen Welten.

Zwei Schulkinder sitzen in einem Klassenzimmer.

Wenn Vororthölle ist, leiden die Kinder am meisten: Szene aus „Bad Tales“ Foto: Filmperlen

Im Kino sind Kinder auf der Leinwand selten nur Kinder. Oft genug geht von ihnen eine regelrecht erpresserische Wirkung aus. So fiebert man als Zu­schaue­r:in zwar auch mit James Bond mit, aber wenn ein Kind involviert und gefährdet ist, steigt der Puls noch höher. Wenn es dagegen lacht, das Kind, entspannen sich selbst diejenigen, die Mutterinstinkte weit von sich weisen würden.

Kinder sind wandelnde Emotionalisierungsmaschinen – und selten hat jemand sie so hinterhältig, fast schon bösartig eingesetzt wie die Brüder Damiano und Fabio D’Innocenzo in ihrem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Bad Tales (Favolacce)“ von 2020.

Die Hinterhältigkeit beginnt mit dem Voiceover. Eine Männerstimme erzählt aus dem Off, dass er in der Mülltonne, „neben ein paar Fernsehzeitschriften“, das Tagebuch eines Mädchens entdeckt habe. Er beschreibt grüne Tinte und eine „träumerische“ Handschrift. Beim Lesen habe ihn aber nicht der Inhalt des Geschriebenen interessiert, sondern das, was da gerade nicht stand. „Als ob einige Dinge ausgelassen wurden, die zugleich bedrückend präsent waren.“

Er habe beschlossen, das Tagebuch fortzuführen: „Was folgt, ist inspiriert von einer wahren Geschichte. Die wahre Geschichte ist inspiriert von einer falschen. Die falsche Geschichte ist ziemlich uninspiriert.“

„Bad Tales (Favolacce)“. Regie: Damiano und Fabio D’Innocenzo. Mit Elio Germano, Barbara Chichiarelli u. a. Italien/CH 2020, 98 Min.

Die Kamera zeigt dazu eine Reihe von Aufnahmen, die zu nah, zu detailliert sind, um zu erfassen, wo und in wessen Geschichte man sich hier befindet. Ein erleuchtetes Fenster umgeben von Bäumen. Ein Mädchengesicht hinter einem Vorhang. Ameisen auf einem Stück Mauer. Ein altes Wasserreservoir. Auf einem Tisch Bruchstücke eines Toastbrots, ein Kronkorken und ein Feuerzeug.

Versprechen auf suburbanes Familienglück

Erst nach dem Hinwies auf die „uninspirierte falsche Geschichte“ gibt es den „Establishing Shot“, eine Drohnenaufnahme von einem Vorort mit Einfamilienhäusern, die den Einfluss des amerikanischen Traums bis nach Italien belegen. Die Rede ist nicht vom toten Mantra, dass es jeder schaffen kann, der hart arbeitet, sondern von jenem viel verlockenderen Versprechen auf suburbanes Familienglück: Häuschen mit Garten, Auto und Gartengrill. Und für die besonders Glücklichen ein Pool.

Man will zunächst die Stimme einem der herumsitzenden Männer zuordnen und gleichzeitig unter den Kindern die ursprüngliche Autorin des Tagebuchs ausmachen. Aber der Fluss der Bilder, der dieser doch eigentlich vertrauten Welt eine Aura des Bizarren verleiht, unterbindet das. Was die Männerstimme eingangs über die Lektüre des Tagebuchs konstatierte, lässt sich gut auf die Zu­schaue­r:in­nen­er­fah­rung des ganzen Films übertragen: Das vordergründig Erzählte ist weniger faszinierend als das, was sich dahinter zu verbergen scheint.

Vordergründig haben wir es mit einer „Fabel“ aus der Vorstadt zu tun. Erst nach und nach gelingt es, die einzelnen Familien richtig zu sortieren. Da gibt es die Eltern mit den zwei Kindern, die Vorbildlichkeit markieren. Den lockeren, alleinerziehenden Vater mit Sohn. Die Tochter, der die Eltern die Haare abrasieren, weil sie angeblich Flöhe hat. Die rauchende Schwangere. Den Mann, der seinen aufblasbaren Pool mit dem Messer aufsticht und die Tat „den Zigeunern“ anlasten will. Der Umgangston ist grob, aber nicht durchweg bösartig.

Die Kinder durchschauen ihre Eltern

Was die Brüder D’Innocenzo atmosphärisch großartig herausarbeiten, ist die absolute Trennung, die zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt verläuft. Es finden zwar Inter­aktionen statt – Zurechtweisungen, Fragen –, aber in Wahrheit leben sie wie auf unterschiedlichen Planeten. Mit dem großen Unterschied, dass für die Eltern die Kinder ein fortwährendes Rätsel darstellen, während umgekehrt die Kinder ihre Eltern nicht nur bis ins Detail beobachten, sondern auch völlig zu durchschauen scheinen.

Anders als in den meisten „Fabeln“, die Erwachsene gegen Kinder stellen, sind die Letzteren hier aber weder die einseitigen Opfer noch taugen sie als Metaphern für Unschuld. Im Gegenteil, sie haben es faustdick hinter den Ohren. Und ein Lehrer, dessen Motive nie ganz klar werden, stiftet sie zu unvorhersehbaren Taten an, die wiederum die eingangs beschriebene Emotionalisierung wie als Farce aufgreifen.

So schwül die dargestellte Atmosphäre ist – die Sommerhitze drückt sich nicht nur in viel nackter Haut, sondern vor allem auch auf der grillenzirpenden Tonspur aus –, so unterkühlt ist der Erzählton, der jeden Versuch der Identifikation mit den Figuren, egal ob erwachsen oder kindlich, fast unmöglich macht. Das ist auf seine Weise anstrengend und über die Länge des Films auch frustrierend.

Zugleich halten einen die Aufnahmen bei der Stange, die mit nie nachlassendem Elan der Alltäglichkeit des Einfamilienhäuservororts etwas Mysteriöses abgewinnen. Das herumliegende Spielzeug, der nicht geleerte Aschenbecher, das abgestellte Wasserglas – unablässig stellt sich die Frage nach dem „bedrückend Präsenten“, von dem hier zugleich geschwiegen wird.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.