: „Museumsarbeit ist auch Care-Arbeit“
Seit vielen Jahren kämpft Nanette Snoep für die Rückgabe von Kunstobjekten aus kolonialen Kontexten. Die Direktorin des Kölner Rautenstrauch-Joest-Museums kooperiert zu diesem Zweck mit Kurator:innen aus den Herkunftsländern und Künstler:innen aus den Diaspora-Communitys. Derzeit verantwortet sie die Ausstellung „RESIST! Die Kunst des Widerstands“
Interview Sabine Seifert
taz am wochenende: Frau Snoep, der neue Koalitionsvertrag sieht erstmalig die Restitution von Objekten aus kolonialen Kontexten an die Herkunftsländer vor. Schrumpfen demnächst die ethnologischen Sammlungen in deutschen Museen drastisch?
Nanette Snoep: Nein, sie schrumpfen nicht, sie wachsen – im metaphorischen Sinn. Ich glaube, es gibt für uns Museumsleute im Moment eine unglaubliche Chance, sich jenseits der historischen Sammlungen neu aufzustellen. Diese schrumpfen schon allein deswegen nicht, weil man weiß, wie umfangreich sie sind. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hat Deutschland eine der größten Sammlungen oder sogar die größte Sammlung von außereuropäischen Kulturgütern.
Das Wissen über die Objekte wächst?
Durchaus. Aber ich spreche auch von der Eigentumsübertragung im Sinne einer Umkehr der Machtverhältnisse. Es geht nicht um eine bloße Rückgabe von Objekten im Sinne von: „We put it in a box and send it back.“ Nehmen wir das Beispiel der Benin-Hofkunstwerke aus Nigeria, von denen im Moment immer die Rede ist. Möglicherweise möchte Nigeria nicht alles zurückbekommen. Wichtig ist jedoch die Anerkennung Nigerias als Eigentümer. Das hätte zur Folge, dass die deutschen Museen verpflichtet wären zuzuhören, wenn sie mit Nigeria zusammenarbeiten wollen.
Wer entscheidet über die Eigentumsübertragung? Die Bundesregierung oder das einzelne Museum?
Die Bundesregierung schlägt diese vor. So steht es im Memorandum of Understanding, das Mitte Oktober zwischen Deutschland und Nigeria unterschrieben wurde. Es geht um eine vollständige Eigentumsübertragung aller Benin-Hofkunstwerke in deutschen Museen. Anschließend müssen die Träger der Museen selbst entscheiden, wie sie das konkret in die Praxis umsetzen. Ich arbeite seit 25 Jahren in diesem Bereich und es ist für mich ein gigantischer Schritt, dass die Rückgabe jetzt auch von der Politik mitgetragen wird. In der Vergangenheit gab es Widerstand, sowohl von dieser Seite wie von den Museen. Wir können das nicht allein leisten. Die Museen brauchen die Politik, und die Politik braucht die Museen.
Die aktuelle Ausstellung „RESIST! Die Kunst des Widerstands“ beschäftigt sich mit 500 Jahren Widerstand gegen den Kolonialismus. Das betrifft ganz unterschiedliche Epochen und unterschiedliche Kulturen. Lassen sich trotzdem Muster oder Gemeinsamkeiten erkennen?
Eine Gemeinsamkeit ist, dass in diesen 500 Jahren jede Sekunde Widerstand geleistet wurde. Widerstandsstrategien findet man überall und auch globale Netzwerke zwischen den Aufständischen, Aktivist:innen, Denker:innen. Diese Geschichte haben wir zwar nicht vergessen, aber verdrängt, und sie wurde außerdem vom Globalen Norden geschrieben. Da klafft eine Lücke in den Geschichtsbüchern. Es geht auch um Empowerment für die Nachfahren der Kolonisierten, dass ihr Widerstand anerkannt und sichtbar wird, dass sie nicht nur Opfer und passiv waren, sondern letztendlich erreicht haben, dass die Sklaverei abgeschafft und ihre Länder unabhängig wurden.
Sie arbeiten mit Künstler:innen und Kurator:innen aus den Herkunftsländern zusammen. Ist das Ihr Konzept der Teilhabe, ein Modell des „Shared Heritage“?
Es geht um eine neue plurale Denk- und Erinnerungskultur. Den Begriff „Shared Heritage“ benutze ich nicht, weil am Ende nicht ich darüber entscheiden sollte. Wie kann ich allein entscheiden, was „Shared Heritage“ ist, wenn ich die Meinung der eigentlichen Besitzer nicht kenne? Ich kann mit Ausstellungen wie „RESIST!“ ungehörte Stimmen oder verdrängte Geschichten lauter, hörbar machen. Ich sehe meine Rolle der Direktorin als Türöffner und kann die Tür breit öffnen, um die Menschen, die sich vorher im Museum nicht willkommen fühlten, hereinzulassen und sprechen zu lassen.
Diese Haltung stößt auch auf Kritik. Warum?
Eine der Kuratorinnen der „RESIST“-Ausstellung, Peju Layiwola, hat den Raum „Benin 1897“ kuratiert mit allen 96 Hofkunstwerken, die das Rautenstrauch-Joest-Museum aufbewahrt, inklusive der dazugehörigen Archive. Layiwola ist nigerianische Künstlerin, Kunsthistorikerin, Professorin. Ihr Großvater war König des Benin-Königreichs. Sie erzählt aus ihrer Perspektive die Geschichte des Raubs, welche Leere er verursacht hat und was das für sie persönlich bedeutet. Layiwola hat sich über 20 Jahre um die Benin-Hofkunstwerke bemüht. Erst jetzt, 2021, hatte sie das erste Mal Zugang, ohne sie aus der Distanz betrachten zu müssen.
Sie durfte die Objekte anfassen?
Die Direktorin
Nanette Snoep, 50, geboren in Utrecht, studierte kulturelle Anthropologie und Kulturmanagement in Paris, wo sie von 1998 bis 2015 die historische Sammlung am Musée du quai Branly leitete. Von 2015 bis 2018 war sie Direktorin der ethnologischen Sammlungen in Leipzig, Dresden und Herrnhut, seit 2019 des Rautenstrauch-Joest-Museums in Köln.
Das macht ihr Angst
Die zunehmende Polarisierung in der Debatte über Restitution und Kolonialismus.
Das gibt ihr Hoffnung
Dass 2022 die Rückgabe der Benin-Hofkunstwerke konkret wird.
Ja, ohne Museumshandschuhe. Der Moment wurde in der ARD-Sendung „Titel, Thesen, Temperamente“ gezeigt. Wir haben das als symbolische Geste zugelassen, als Akt der Empathie. Museumsarbeit ist auch Care-Arbeit. Wir wollten, dass Layiwola sich gut fühlt an einem Ort, der durchdrungen ist von der kolonialen Vergangenheit, und wo sie mit unseren Museumskolleg:innen drei Wochen lang an der Sammlung arbeiten konnte, nach ihren Wünschen und ohne Einschränkungen.
War es ein magischer Moment?
Der direkte Kontakt hat sie emotional sehr berührt. Aber es kamen sofort ablehnende Reaktionen nach der Sendung, weil Layiwola die Bronzen ohne Handschuhe berührt hat. Warum sind wir nicht in der Lage zu sehen, dass es hier um etwas ganz Essenzielles geht? Es geht um koloniale Traumata, Versöhnung, Heilung. Es geht um Empathie, Solidarität und Care.
Nur zehn Prozent der Bestände in deutschen ethnologischen Museen werden ausgestellt. Woher sollen Länder wie Nigeria oder Kambodscha wissen, was sie zurückfordern können?
Mit der Digitalisierung und der Online-Stellung der Sammlungen sind wir im Vergleich zu unseren Nachbarländern spät dran in Deutschland. Das Pariser Musée du quai Branly hat bereits 1998 angefangen, alles zu digitalisieren. Nicht nur die Objekte wurden fotografiert und die Inventarbücher und Karteikarten digitalisiert, sondern auch die Sammlungsarchive. Im Juni 2006 sind dann 330.000 Objekte und 800.000 historische Fotografien online gegangen. Die Digitalisierung einer Sammlung allein reicht nicht aus, die Daten müssen extern für alle zugänglich sein.
Die Benin-Bronzen stammen aus einer britischen Strafexpedition von 1897 und über 1.000 von 4.000 landeten in deutschen Museen. Warum gelten sie als die Picassos der ethnologischen Museen?
Es handelt sich um das einflussreiche Benin-Königreich im heutigen Nigeria, das nach wie vor existiert. Frankreich hat vor Kurzem 26 Skulpturen an die Republik Benin zurückgegeben, das sind Hofkunstwerke aus einem anderen Königreich. Da gerät ständig etwas durcheinander. Die sogenannten Bronzen sind Hofkunstwerke, die für den Königspalast hergestellt wurden.
Ein Teil stammt von den Säulen des Königspalastes in Benin City.
Ja, das sind die Reliefplatten, von denen gab es mehr als 800. Alles Unikate. Die Reliefplatten wurden auf Säulen fixiert. Sie erzählten die Heldengeschichten der Könige, aber auch von Kriegen, Ritualen. Sie sind wie ein Geschichtsbuch, das Archiv des Königreichs. Dann gibt es noch die Köpfe aus Messing von Königen oder Königinnen, die auf Altären verehrt wurden. Diese Hofkunst ist oft sakral und vor allem identitätsstiftend. Deswegen ist es für Nigeria so wichtig, dass es diese Werke zurückbekommt.
Nanette Snoep über die stille Kraft religiöser Kunst
Verlieren oder verändern sie ihren sakralen Charakter, weil sie im Depot oder hinter Glas standen?
Auf diese Frage gibt es keine klare Antwort. Aus dem Kongo stammen die sogenannten Minkisi, das sind mit Nägeln gespickte heilige Kraftfiguren. Sie gelangten ab Ende des 19. Jahrhunderts zu Zehntausenden nach Europa. Damit sie ihre Kraft behalten, musste man sie ständig pflegen, indem man zum Beispiel Opfergaben brachte. Wenn das nicht geschieht, verlieren sie ihre Kraft und sterben, heißt es. Aber einige religiöse Experten aus der Region sagen, dass immer etwas von ihrer Kraft erhalten bleibt. Man könne sie wieder reaktivieren. Darum geht es doch auch: dass bestimmte sakrale Objekte wieder zirkulieren und in Ritualen benutzt werden können als eine Form der Resilienz.
Welche Formen der Rückgabe gibt es neben der Eigentumsübertragung?
Mir haben Nachfahren erzählt, dass sie die Rückgabe von Kulturgütern oft als PR-Aktivität der Museen empfinden. Wie empfängt man diese Menschen, wenn sie zur Übergabe anreisen? Es ist ein wichtiges Abschieds- und Ankommensritual. Als Museen sollten wir uns jede damit verbundene Geste gut überlegen. In Sachsen, wo ich bis 2018 tätig war, haben die Nachkommen von vier Verstorbenen aus Hawaii 26 Jahre lang um die Rückgabe der Gebeine ihrer Vorfahren gekämpft. Wir haben gemeinsam dafür gesorgt, dass sie „rehumanisiert“ werden und nicht mehr als „Objekte“, sondern als Verstorbene betrachtet werden. Das heißt: keine Inventarnummer mehr, keine Fotos, stattdessen die Nachfahren sprechen lassen. Journalisten waren beim Ritual nicht zugelassen, vom Museum waren nur drei Leute dabei. Anschließend haben wir das bei mir zu Hause gefeiert. Ich habe gekocht, mein Bruder ist mit seinen Kindern gekommen. Denn darum geht es vielleicht: gemeinsam um einen Tisch sitzen, reden, Essen teilen.
Das Konzept von Museen, ethnologischen Museen sowieso, entspricht nicht unbedingt den Vorstellungen, wie man in nichteuropäischen Ländern mit Kunst umgeht. Sind Sie auf interessante andere Ideen gestoßen?
Spannend finde ich die Frage, mit der sich viele Museen im Globalen Süden auseinandersetzen: Wie schafft man es, dass sie nicht nur für weiße Touristen interessant, sondern für die lokale Bevölkerung offen sind? Wie können Museen lebendige Orte werden, an denen Objekte zirkulieren zwischen dem Museum und den Communitys und diese dabei ihre Bedeutung ständig ändern? Im Museum in Abidjan wandern für bestimmte Rituale Objekte aus den Vitrinen in die Communities und kehren anschließend zurück. Das Museum ist ein wirklicher Begegnungsort.
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