Vom Leid der Mäuse

Forschungsgesellschaften befürworten Tierversuche, Tierschutzorganisationen sind pauschal dagegen. Doch es gibt auch Zwischentöne – und immer mehr Alternativen

Ein Leben und Tod für die Forschung: Die meisten Tierversuche werden an Mäusen vorgenommen Foto: CTK photo/imago

Von Kathrin Burger

Die Weihnachtstage geben vielen Menschen Gelegenheit, sich nach bald zwei Jahren Corona bewusst zu machen, wie einschneidend eine Pandemie ist. Es gibt kaum etwas, das nicht vom neuen Virus beeinflusst wäre. Das gilt auch für die Forschung. Viele Wissenschaftler haben zuletzt mehr Zeit im Homeoffice als im Labor verbracht. Konsequenzen hat das nicht zuletzt für Mäuse oder Ratten: Die Zahl der Tierversuche in Deutschland ist zwischen 2019 und 2020 um 14 Prozent gesunken, statt 2,9 Millionen haben im ersten Coronajahr 2,5 Millionen Versuchstiere ihr Leben für die Wissenschaft gelassen. Das hat das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) kürzlich bekanntgegeben. Nicht nur das Homeoffice, auch Lieferprobleme spielen dabei eine Rolle. Zudem ist die Forschung selbst effizienter geworden, und es gibt zunehmend Alternativen. So werden etwa an der Berliner Charité mögliche Virus-Arzneien in Lungen-Organoiden getestet. Organoide sind im Reagenzglas nachgebaute Mini-Organe.

Doch einige Forschende monieren, dass nicht genug getan werde, um Alternativen zu pushen, und dass derzeit noch zu viele unnötige Tierversuche durchgeführt würden. Einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, ist jedoch gemäß § 1 Tierschutzgesetz verboten. Ist die Gesetzgebung also unzureichend?

„Wir haben ein sehr strenges Tierschutzgesetz“, sagt Gilbert Schönfelder, der das Zentrum zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R) am BfR leitet. „Und auch das Genehmigungsverfahren für Versuche mit Tieren legt fest, dass ein Forscher darlegen muss, dass es keine Ersatzmethode zu dem beantragten Tierversuch gibt“, sagt Schönfelder. Wissenschaftsorganisationen wie die Max-Planck-Gesellschaft und die Leopoldina halten die Prüfverfahren in ihrer aktuellen Form ebenfalls für ausreichend. Tierschützer lehnen Tierversuche dagegen pauschal ab.

Derzeit werden Tierversuche in drei Hauptbereichen eingesetzt: Das ist einmal die Grundlagenforschung; hier geht es darum, die Natur zu verstehen. Zu verstehen etwa, was es mit der Epigenetik auf sich hat, wie Eltern an ihre Nachkommen Eigenschaften vererben, ohne dass sich dies in der DNA niederschlägt. Aktuell steht auch das Mikrobiom im Fokus. Etwa 60 Prozent aller Versuchstiere dienen als Studienobjekt für Grundlagenforschung.

Ein weiterer Bereich sind toxikologische Untersuchungen, um neue Chemikalien, etwa Pestizide oder Substanzen in Kleidern, auf ihre Sicherheit für den Menschen zu überprüfen. Etwa 20 Prozent der Versuchstiere wird dafür genutzt. Diese werden meist von Unternehmen durchgeführt, die die Substanzen auf den Markt bringen wollen. Die drittgrößte Anzahl an Tieren wird für die medizinische Forschung genutzt, das sind etwa 13 Prozent.

Unter den 1,9 Millionen Versuchstieren finden sich vor allem Mäuse (71 Prozent), aber auch Ratten (7 Prozent), Fische (12 Prozent), Kaninchen (4 Prozent), Schweine (1 Prozent) oder Primaten (0,1 Prozent).

Streitpunkt Nummer 1 ist die Frage, wie gut Versuche an Tieren auf den Menschen übertragbar sind. „In der Grundlagenforschung sind es nur 0,3 Prozent“, sagt Julia Radzwill von der Organisation „Ärzte gegen Tierversuche“. Und auch im Bereich Medikamente würden über 90 Prozent der Substanzen, die im Tierversuch wirken, in Humanstudien durchfallen.

Peter Kremsner, Infektions- und Tropenmediziner an der Universität Tübingen, kann ein Lied davon singen. Er hält Tierversuche zwar teils für vertretbar, etwa in der Grundlagenforschung oder in der Toxizitätsprüfung für neue Arzneien. Aber in der medizinischen Forschung seien sie verzichtbar. „Seit Jahrzehnten gibt es etwa 30 Malaria-Impfstoffe, die in der Maus 100 Prozent wirksam sind, beim Menschen ist jedoch kein einziger gut wirksam und bisher zugelassen“, sagt Kremsner. Das Gleiche gelte für andere Infektionskrankheiten. Die Maus sei einfach kein guter Modellorganismus.

Roman Stilling von der Informationsinitiative „Tierversuche verstehen“, die von diversen Wissenschaftsorganisationen ins Leben gerufen wurde, entgegnet: „Das Wesen von Forschung ist, dass man das Ziel oft nicht genau kennt und daher notwendigerweise auch Ansätze verfolgt, die nicht zu einer Anwendung führen.“ Zudem sei es Forschenden sehr wohl bewusst, dass ein Mensch keine Maus sei. „Das schließt nicht aus, dass man mithilfe von Mäusen Erkenntnisse über Vorgänge im menschlichen Körper erlangen kann“, so Stilling.

Auch hinsichtlich toxikologischer Prüfungen gehen die Meinungen auseinander. „Studien belegen, dass heutige Softwareprogramme die Toxizität besser einschätzen, als Tierversuche es können“, sagt Radzwill. Die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) ruft seit 2017 Unternehmen dazu auf, solche Computersimulationen anstatt Tierversuche zu verwenden. „Um das EU-Recht in Sachen Chemikaliensicherheit zu erfüllen, werden heute schon überwiegend tierversuchsfreie Methoden eingesetzt“, sagt Stilling. So muss jede Charge Botulinumtoxin, das in den Handel kommen soll, geprüft werden – bislang ein qualvoller Test für Mäuse. Alle Hersteller, die ihre Botox-Präparate in Deutschland vertreiben, haben zum Großteil auf tierversuchsfreie oder -reduzierte Methoden umgestellt.

„In der Grundlagen­forschung sind nur 0,3 Prozent der Versuche an Tieren auf den Menschen über­tragbar“

Julia Radzwill, Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei „Ärzte gegen Tierversuche“

Thomas Hartung, Toxikologe an der Universität Konstanz, berichtet jedoch von einem sehr trägen System: „Ich habe vor 26 Jahren eine Alternative entwickelt, die Kaninchen-Tests zur Untersuchung von injizierbaren Medikamenten ersetzt. Vor 15 Jahren wurde der Test als wirksam anerkannt, dennoch durchlaufen heute in Europa noch jährlich 170.000 Kaninchen diese Prozedur. Dieses Jahr wurde endlich verkündet, dass der Tierversuch in den nächsten 5 Jahren ausläuft.“ Die Alternative wäre also seit Jahren verfügbar. Es hängt in diesem Fall an den Zulassungsbehörden.

Dennoch muss auch die Forschung zu Alternativen schneller gehen. Dies ist EU-weit sogar als Ziel formuliert. So betont die EU-Tierversuchsrichtlinie das „3R-Prinzip“ als Forschungsgrundlage: Das heißt Reduzierung (Reduction), Verfeinerung (Refinement) von tierexperimentellen Methoden sowie Entwicklung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden (Replacement). Diese umfassen beispielsweise In-vitro-Verfahren, Computersimulationen und bildgebende Verfahren wie Kernspintomografie oder Ultraschall.

Der Tübinger Forscher Kremsner etwa prüft neue Wirkstoffe erst in-vitro und macht dann, wenn möglich, früh kontrollierte Humanstudien. „Das geht nur bei Krankheiten, für die man gute und schnell wirkende Medikamente hat, die sowohl akute als auch Langzeitschäden verhindern, wie im Falle von Malaria“, sagt Kremsner.

Unter den Ersatzmethoden gelten vor allem Organoide als vielversprechend. Teilweise werden die künstlichen Miniorgane sogar gemeinsam auf einem Mikrochip („Organ on a Chip“) platziert, um das Zusammenspiel der Organe zu imitieren und besser zu verstehen. Vielfach werden sie etwa schon in der Krebsforschung eingesetzt. Doch trotz solcher Fortschritte stößt man laut Deutschem Krebsforschungszentrum nach wie vor an Grenzen in der Darstellung komplexer Wechselwirkungen zwischen Zelle und Gesamt­organismus.

Es braucht also weitere Forschungsanstrengungen. „Je besser die Erforschung für Alternativen voranschreitet, desto eher werden auch die Versuchstierzahlen zurückgehen“, ist Gilbert Schönfelder vom Bf3R überzeugt.