„Die Polizei kann nicht überall gleichzeitig sein“

Dass Beamte mit Coronaprotestlern sympathisieren, hält Sachsens Polizeipräsident Horst Kretzschmar für einen haltlosen Vorwurf. Ein Gespräch über den richtigen Umgang mit einer sich radikalisierenden Szene

Ein „Spaziergang“ gegen die Coronamaßnahmen in Freiberg in Sachsen. Die Polizei wollte die illegale Versammlung eigentlich verhindern Foto: Sebastian Willnow/picture alliance

Interview Rieke Wiemann

taz: Herr Kretzschmar, die sächsische Polizei steht wegen ihres Umgangs mit den Coronaprotesten stark in der Kritik. Obwohl in Sachsen seit dem 19. November nur noch ortsfeste Kundgebungen mit maximal zehn Teil­neh­me­r*in­nen erlaubt sind, hat die Polizei die Aufmärsche mehr als zwei Wochen einfach geduldet. Wieso?

Horst Kretzschmar: Die Polizei ist dazu da, Grundrechte zu gewährleisten. Ich bin ein großer Schützer der Versammlungsfreiheit, sie ist ein hohes Gut unserer Demokratie. Nun ist es so, dass sich der Freistaat Sachsen aufgrund seiner extremen Inzidenzen dazu entschieden hat, das Versammlungsrecht in einem Maße einzuschränken, wie es in Deutschland einmalig ist. Das ist aus meiner Sicht eine sehr starke Begrenzung, die aber auch gute Gründe hat. Die Aufgabe der Polizei war und ist es, die Versammlungsfreiheit mit dem Gesundheitsschutz zu vereinen.

Natürlich ist das Versammlungsrecht ein hohes Gut. Aber in Sachsen ist es zurzeit nun mal verboten, sich mit mehr als zehn Menschen zu versammeln.

Ja. Man muss aber auch mal sagen, dass es sich bei der Teilnahme an einer derzeit unzulässigen Versammlung um eine Ordnungswidrigkeit handelt. Im Parkverbot zu parken ist auch eine Ordnungswidrigkeit, und wie viele Menschen parken in Deutschland falsch? Dieser Vergleich hinkt möglicherweise, aber ich möchte deutlich machen, dass man ein Grundrecht wie die Versammlungsfreiheit nicht auf eine Ebene mit einer Ordnungswidrigkeit stellen kann.

Am 13. Dezember demonstrierten in Dresden 150 Geg­ne­r*in­nen der Coronamaßnahmen vor dem Krankenhaus Friedrichstadt und blockierten zeitweise die Einfahrt. Obwohl diese Demo tagelang vorher angekündigt war, hat die Polizei sie nicht verhindert.

Schön, dass wir mal drüber reden können. Ihre Darstellung ist so einfach nicht richtig.

Inwiefern?

Die Polizei hat von dem Spaziergang am 13. Dezember gewusst. Zwei Kilometer vor dem Krankenhaus hat sie 150 Menschen gestoppt. Die Beamten haben einen Teil der Demonstranten umschlossen und eine ganze Reihe Ordnungswidrigkeitsanzeigen erstattet. Währenddessen hat sich ein anderer Teil an Demonstranten in Richtung Krankenhaus aufgemacht. Wir waren die ganze Zeit mit dem Verwaltungsleiter der Klinik in Verbindung. Kein Rettungswagen war gehindert, ein- oder auszufahren, und kein Besucher, das Krankenhaus zu betreten. Die Demonstranten haben Kerzen an dem Krankenhaus Friedrichstadt abgestellt. Die Aussage, dass es irgendeine Barrikade gab, ist einfach nicht wahr. Das Krankenhaus war in seiner Funktion überhaupt nicht eingeschränkt.

Das habe ich auch gar nicht behauptet. Ich finde es nur besorgniserregend, dass so viele „Querdenker“ ungehindert vor einem Krankenhaus demonstrieren können.

Die Polizei kann nicht an allen Orten gleichzeitig präsent sein. Als sich Gegner der Coronamaßnahmen vor dem Krankenhaus versammelten, waren die Beamten noch mit den Ordnungswidrigkeitsanzeigen beschäftigt. Nachdem wir die Ansammlung vor dem Krankenhaus Friedrichstadt zur Kenntnis genommen hatten, sind wir dorthin, und als wir dort erschienen sind, haben sich die Menschen auch wieder entfernt. Aus meiner Sicht hat die Polizeidirektion Dresden in diesem Fall nichts verkehrt gemacht. Das ist einfach polizeiliches Handeln, was Raum und Zeit benötigt.

Nächster Vorfall: Am 10. Dezember haben Po­li­zis­t*in­nen einen unerlaubten Aufzug mit 100 Teil­neh­me­r*in­nen in der Dresdner Innenstadt laufen lassen, stattdessen aber Jour­na­lis­t*in­nen von Vue.Critique kontrolliert. Wie erklären Sie das?

Das Verhalten des Polizeibeamten, der an diesem Tag in der Rolle des Polizeiführers war, war gegenüber den Journalisten überzogen, und die Art und Weise, wie die Beamten mit den Journalisten umgegangen sind, entsprach nicht dem von mir erwarteten professionellen Auftreten. Das geht so nicht. Wir müssen die Journalisten schützen, das ist auch unsere grundsätzliche Strategie. Der Beamte – und das gehört zur Wahrheit dazu – war deutlich überfordert und ist daher etwas von unseren Grundlinien abgewichen. Solche Situationen passieren in Einzelfällen in so einer angespannten Lage. Dafür haben wir auch öffentlich um Entschuldigung gebeten.

Ähnliche Situation am 29. November in Chemnitz: Die Polizei ließ rund 300 „Querdenker“ einfach durch die Stadt marschieren. Statt den Aufzug zu stoppen, ging sie gegen 27 linke Ge­gen­de­mons­tran­t*in­nen vor. Warum?

Die Polizei Chemnitz wollte eine Konfrontation zwischen den beiden Gruppen verhindern. Rückblickend muss ich sagen, dass es noch bessere Lösungen gegeben hätte.

Und zwar?

Man hätte die Ansammlung der Gegendemonstranten umgehen können. Auch bei der Gegendemonstration handelte es sich um mehr als die erlaubten zehn Personen. Es war also genauso eine Ordnungswidrigkeit wie die Anti-Corona-Demo.

Fackelmarsch

Anfang Dezember versammelten sich etwa 30 Menschen vor dem Haus von Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping in der Nähe von Grimma. Die Teilnehmer zündeten Fackeln an und machten Lärm. Zahlreiche Politiker verglichen den Vorfall mit dem Auftreten der SA im Nationalsozialismus. Die Polizei erstattete Anzeige wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz.

Morddrohungen

Am 7. Dezember berichtet die ZDF-Sendung „Frontal“ über eine Chatgruppe, die über Telegram Mordpläne gegen Sachsens Ministerprä­sidenten Michael Kretschmer besprochen haben soll. Mitte Dezember kam es zu einer Razzia gegen die Chatgruppe in mehreren Wohnungen in Dresden und Heidenau. Es wurden Waffen und Armbrüste gefunden.

Gewalt

Bei der Kontrolle einer illegalen Feier in der Nähe von Chemnitz wurde ein Polizist Samstagnacht verletzt. Der 60-Jährige wurde durch etwa 25 Coronaleugner eingekesselt, niedergeschlagen und mehrfach getreten. (taz)

Wollen Sie damit sagen, dass eine „Querdenken“-Demo mit 300 Menschen gleichzusetzen ist mit einer Gegendemo, an der 27 Personen teilnehmen?

Nein, das würde ich ausdrücklich nicht gleichsetzen.

Das klang gerade so.

Sie sollen ja auch nicht irgendetwas interpretieren.

Deswegen hatte ich ja noch mal nachgefragt. Können Sie vor dem Hintergrund dieser Vorfälle denn verstehen, dass viele der sächsischen Polizei eine zu große Nähe zu den Coronaprotestlern vorwerfen?

Das ist ein typischer Vorwurf, der durch ganz Deutschland wabert. Ich kann den komplett entkräften. Die sächsische Polizei ist dazu da, Freiheitsrechte zu schützen und den Rechtsstaat durchzusetzen.

Und was sagen Sie zu dem sächsischen LKA-Beamten, der privat an einer „Querdenker“-Demo in Pirna teilgenommen hat und einen Polizisten der Bereitschaftspolizei Niedersachsen angegriffen haben soll?

Es ist mir absolut unverständlich, wenn Polizeibeamte an einer Anti-Coro­na-Demo teilnehmen. Noch verwerflicher ist, dass sich der Beamte den Anweisungen des Polizisten widersetzt hat. Vergangene Woche wurde das Er­mitt­lungsverfahren eingeleitet. Es geht darum, die Motive des Polizeibeamten zu ermitteln. In seiner bisherigen Tätigkeit ist dieser Beamte unauffällig gewesen. Er arbeitete im Landeskriminalamt in verantwortungsvoller Position, und zwar sehr gut. Jetzt fragen wir uns natürlich alle: Warum hat er an dieser Versammlung teilgenommen und sich so benommen? Das verurteile ich, keine Frage, aber ich möchte das Ermittlungsverfahren abwarten. So lange geht der Beamte keiner polizeilichen Tätigkeit nach.

Wie schätzen Sie die Gefahr ein, die von den Coronaprotestlern ausgeht?

Ziemlich groß. Das Hauptproblem ist, dass es einer ganz geringen Zahl an Rechtsextremisten gelungen ist, Teile des bürgerlichen Lagers hinter sich zu bringen. Anders gesagt: Viele Bürger laufen den „Freie Sachsen“ hinterher (einer rechtsextremen Kleinstpartei, die zu zahlreichen Coronaprotesten aufruft; d. R.), ohne ihre politische Dimension einzuordnen. Wir als Gesellschaft müssen mit den Gegnern der Coronaregeln ins Gespräch kommen und sie davon überzeugen, dass die pandemische Lage hoch angespannt ist und es um die Gesundheit von allen Menschen geht. Das ist ein gesellschaftlicher Auftrag, kein polizeilicher.

Warum?

Foto: F.: P. Thomas/Polizei Sachsen

Horst Kretzschmar, 62, ist seit 2019 Polizeipräsident in Sachsen. Zuvor war er Leiter des Präsidiums der Bereitschaftspolizei und Präsident der Polizeidirektion Dresden. Der Militärwissenschaftler ist seit 1990 bei der Polizei tätig.

Die Polizei als „Notarzt“ der gesellschaftlichen Probleme wird das Problem bei Versammlungen allein nicht lösen können. Es geht ums Reden und Überzeugen, nicht um Konfrontation und Gewalt. Das oberste Ziel der Polizei ist nach wie vor, die Friedlichkeit von Ansammlungen zu gewährleisten, und nicht zur Eskalation beizutragen. Das ist eine große Herausforderung. So zu tun, als würde sich die sächsische Polizei dieser Aufgabe nicht stellen, ist einfach falsch.

Die Teil­neh­me­r:in­nen der Coronademos sind in den vergangenen Wochen immer gewaltbereiter geworden. Einige haben Po­li­zis­t*in­nen und Jour­na­lis­t*in­nen angegriffen. Können Sie Me­di­en­ver­tre­te­r:in­nen noch schützen?

Ja, können wir. Der Schutz der Journalisten wird bei uns sehr hoch gehalten. Wir bitten diese darum, Kontakt zur Polizei zu suchen, wenn sie vor Ort über Demonstrationen berichten. Das Schutzangebot der Polizei für Journalisten, die in Sachsen tätig sind, ist schon sehr groß. Da sind wir deutliche Schritte nach vorne gekommen. Einzelfälle wird es natürlich immer geben. Nämlich dann, wenn sich Journalisten allein in Gefahrenregionen begeben und nicht den Schutz der Polizei suchen.

Nach Angaben von Jour­na­lis­t*in­nen von Vue.Critique bat die Polizei sie am 12. Dezember in Bennewitz und am 19. Dezember in Dresden darum, ihre Pressearbeit abzubrechen, weil sie ihren Schutz nicht mehr garantieren könne.

Nur weil die Journalisten von Vue.Critique das auf Twitter posten, heißt es nicht, dass das auch stimmt. Weder im Nachgang des Versammlungsgeschehens in Bennewitz noch in Dresden-Laubegast gingen bei der Polizei Anzeigen ein. In beiden Fällen kam es zwischen den vor Ort befindlichen Journalisten und einzelnen Auf­zugs­teil­neh­mern zwischenzeitlich zu verbalen Auseinandersetzungen, welche jedoch durch eingesetzte Kräfte unterbunden wurden.

Falls die Teil­neh­me­r*in­nen der „Querdenken“-Demos sich weiterhin gewalttätig verhalten sollten, wird die sächsische Polizei bei den Aufzügen auch mehr Gewalt anwenden?

Gewalt und Gegengewalt, das ist ja eine Wechselbeziehung. Wir werden nicht dazu beitragen, dass die Gewaltspirale nach oben geht, aber wir werden auch nicht zulassen, dass Gewalttäter straffrei davonkommen.