Ausgangssperren waren verhältnismäßig

Verfassungsbeschwerden gegen die Bundesnotbremse scheitern. Das Gericht bezeichnet tiefe Eingriffe in die Grundrechte als „gerechtfertigt“

Kontaktbeschränkungen, wie hier in Berlin-Schöneberg: Tun weh, sind aber rechtens Foto: Daniel Biskup

Von Christian Rath

Das Bundesverfassungsgericht hat die zeitweise geltende Bundesnotbremse akzeptiert. Die beiden umstrittensten Maßnahmen – Schulschließungen und Ausgangssperren – verstoßen nicht gegen das Grundgesetz, so die Rich­te­r:in­nen in zwei jetzt veröffentlichten Beschlüssen.

Lange Zeit haben die Bundesländer mit ihren Coronaverordnungen die Pandemiepolitik bestimmt. Als die Länder im März jedoch auf die dritte Coronawelle uneinig und sorglos reagierten, nahm Kanzlerin Angela Merkel das Heft in die Hand und der Bundestag beschloss die Bundesnotbremse. Nun galten in allen Landkreisen, die den Inzidenzwert von 100 überschritten, automatisch strenge Beschränkungen, zum Beispiel nächtliche Ausgangssperren von 22 Uhr bis 5 Uhr. Schulen sollten ab einer Inzidenz von 165 schließen.

Die Regelung trat am 23. April zeitweise bundesweit in Kraft. Sie war gesetzlich bis zum 31. Juni befristet, doch schon am 13. Juni waren alle Landkreise wieder unter dem Inzidenzwert von 100. Vor zwei Wochen hat die Ampelkoalition die Notbremse sogar ganz aus dem Infektionsschutzgesetz gestrichen.

Gegen die Bundesnotbremse gingen in Karlsruhe mehr als 300 Verfassungsbeschwerden ein. Nun hat der Erste Senat erstmals in der Hauptsache entschieden. Das Gericht konzentrierte sich dabei auf zwei Komplexe: Zum Thema Schulschließungen wählte es zwei Verfassungsbeschwerden von Familien aus. Bei den Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen wurden fünf Verfassungsbeschwerden näher geprüft, darunter die Klagen von 80 FDP-Bundestagsabgeordneten, von drei Landtagsabgeordneten der Freien Wähler aus Rheinland-Pfalz und von zehn Kläger:innen, die von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) koordiniert wurden, darunter die grüne Bundestagsabgeordnete Canan Bayram.

Die Rich­te­r:in­nen stellten fest, dass die Maßnahmen zwar tief in Grundrechte eingreifen, dass dieser Eingriff aber durch das Ziel – Schutz von Leben, Gesundheit und Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens – gerechtfertigt war. In beiden Entscheidungen kam es letztlich auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Mittel an.

Als Ausgangspunkt bezog sich das Gericht auf die Einschätzung des RKI, dass die Gefährdung für die Bevölkerung im April „sehr hoch“ war. Die Infektionen hätten sich exponentiell ausgebreitet, die ansteckendere Delta-Variante wurde dominant. Die Krankenhäuser standen unmittelbar davor, auf Notbetrieb umzuschalten. Die geprüften Maßnahmen wurden als „geeignet“ akzeptiert. Sie zielten im Rahmen eines „Gesamtkonzeptes“ darauf ab, so die Richter:innen, Kontakte in der Bevölkerung und damit neue Infektionen zu reduzieren. Die Rich­te­r:in­nen hielten es auch für geeignet, dass die Maßnahmen an bestimmte Inzidenzwerte gekoppelt wurden. Dies bleibe im Rahmen des „Einschätzungsspielraums“ des Gesetzgebers. Die Maßnahmen seien auch verhältnismäßig, so die Richter:innen, weil der Gesetzgeber dem Pandemieschutz nicht einseitig Vorrang gab. Zeitlich sei die Bundesnotbremse auf maximal neun Wochen befristet gewesen, auch habe sie nur in besonders belasteten Landkreisen gegolten. Bei der nächtlichen Ausgangssperre habe es zudem Ausnahmen gegeben. Auch bei Schulschließungen seien Ausnahmen etwa für Abschlussklassen möglich gewesen, außerdem konnte eine Notbetreuung für Kinder ohne gutes heimisches Lernumfeld eingerichtet werden.

Die Rich­te­r:in­nen bezeichnen ihre Einschätzung bezüglich der Schulschließungen ausdrücklich als „vorläufig“

Zu Recht seien Schulschließungen erst ab einem Wert von 165 angeordnet worden, so die Richter:innen. Schließlich seien die Eingriffe für Schü­le­r:in­nen schwerwiegend, insbesondere für Grundschulkinder und Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Bei Schulschließungen müsse der Staat ersatzweise digitalen Distanzunterricht anbieten. Dies könnten Schü­le­r:in­nen notfalls gerichtlich einklagen, so das Gericht. Dabei könnten sie sich auf ein erstmals postuliertes „Recht auf schulische Bildung“ berufen.

Die Rich­te­r:in­nen bezeichnen ihre Einschätzung bezüglich der Schulschließungen ausdrücklich als „vorläufig“. Mit zunehmendem Impfangebot in der Gesellschaft könne das Verbot von Präsenzunterricht sogar „allmählich seine Rechtfertigung verlieren“, heißt es im Karlsruher Beschluss.

Johannes Fechner, der rechtspolitische Sprecher der SPD, begrüßte die Entscheidungen: „Wir sehen Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen für Ungeimpfte als sinnvoll an, auch zu deren Schutz.“ Der designierte Justizminister Marco Buschmann (FDP), der selbst geklagt hatte, kündigte dagegen an, die Ampelkoalition werde auch weiterhin keine Ausgangssperren vorsehen. „Nicht das Verlassen der Wohnung ist gefährlich, sondern der Kontakt mit Menschen.“ Schulschließungen seien, „wenn es irgend geht, zu vermeiden“.