Neuerscheinung von Octavia Butlers „Wilde Saat“: Wandelbare Körper

Genderidentität, ethnische Zugehörigkeit, Feminismus: Butlers afrofuturistischer Klassiker „Wilde Saat“ erprobt heutige Diskurse in fantastischer Form.

Sklaven kehren in der Abenddämmerung von Ihrer Feldarbeit zurück. Ein Foto von 1860 aus den USA

Octavia Butler spricht Themen wie Sklaverei und Kolonialismus aus anderer Perspektive an Foto: akg-images/Science Source

Das Problem ist ein altes, daher nur kurz zur Erinnerung: Bei Science-Fiction genügt es bis heute, den Namen dieses Genres zu nennen, um viele potenzielle Leser in die Flucht zu schlagen. Was daran liegt, dass auf dem Markt einiges unter dieser Bezeichnung läuft, das literarisch eher weniger ambitioniert ist, sei es erzählerisch oder stilistisch. Wobei eigentlich bekannt sein sollte, dass auch „richtige“ Romane besser oder schlechter sein können. Sollte als Hinweis gar nicht nötig sein, die Erfahrung lehrt einen aber oft eines Besseren.

Auch Vorurteile gegenüber Verlagen, die nicht zu den renommierten Literaturadressen zählen, ließen sich auf dem Weg abbauen. So hat der Heyne Verlag in seiner Reihe „Meisterwerke der Science-Fiction“, in der Autoren wie George Orwell, J. G. Ballard oder Ursula K. Le Guin vertreten sind, mit „Wilde Saat“ der US-amerikanischen Schriftstellerin Octavia E. Butler einen in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerten Titel hinzugefügt.

Aktuell ist der vierzig Jahre alte Roman allemal. Die Handlung ist selbst für Science-Fiction ungewöhnlich

Denn Butler ist nicht allein eine der wenigen Frauen in dieser männerdominierten Liste, sie ist zudem eine der wenigen Schwarzen Autorinnen des Genres. In den USA feierte die 1947 in Kalifornien geborene und 2006 durch einen Unfall gestorbene Butler mit ihren Romanen Erfolge, erhielt diverse Auszeichnungen, darunter zweimal den Hugo Award.

„Wilde Saat“ erschien 1980, für die aktuelle Neuauflage wurde Will Plattens deutsche Übersetzung von 1984 überarbeitet. Und aktuell ist der Roman allemal. Die Handlung ist selbst für Science-Fiction ungewöhnlich. Im Mittelpunkt stehen Doro und Anyanwu, zwei Personen, die Dinge können, durch die sie kaum noch menschlich wirken. Doro ist ein Unsterblicher, der zum Überleben die Körper anderer benötigt. Er tötet, sobald sein Ich ein neues „Zuhause“ wählt. Geist und Körper sind in dieser Welt demnach streng getrennt.

Heilung durch Gedanken

Anyanwu hingegen ist als Heilerin in der Lage, ihren Körper durch ihre Gedanken von Krankheiten und Verletzungen zu kurieren, ein Wissen, mit dem sie oft anderen hilft und durch das sie es ihrerseits zu einem beträchtlichen Alter gebracht hat. Sie kann zugleich ganz grundsätzlich die Gestalt ihres Körpers verändern, beliebig Alter, Geschlecht und Hautfarbe wechseln. Sogar in ein Tier kann sie sich verwandeln.

Diese Hauptfiguren sind zunächst antagonistisch angelegt, hier der destruktive Mann Doro, dort die „konstruktiv“ operierende Anyanwu. Mit der Wahl des Kontinents ist die Erzählung entschieden afrofuturistisch: Beide Figuren stammen aus Afrika, aus welchen Ländern, erfährt man nicht. An­yan­wu lebt zu Beginn der Handlung im Jahr 1690 noch in ihrem Dorf, als Doro sie findet. Er hatte sie gesucht. Zu einem irritierenden Zweck: Doro sammelt Menschen, um mit ihnen ein „Volk“ zu züchten.

Er wählt dazu Menschen, die wie er über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen. Formal gesehen, geht es um durch angewandte Genetik hervorgebrachte Superhelden. Butler macht daraus jedoch etwas völlig anderes als eine Marvel-Avengers-Geschichte.

Zyklisches Erzählen

Denn ihre Erzählung beobachtet die beiden Protagonisten bei ihrer Begegnung, bei ihrem Kennenlernen, nimmt sich Zeit für den Austausch untereinander, was es bedeutet, einen Körper zu wechseln, sei es gewaltsam wie bei Doro oder durch eine avancierte Form der Introspektion wie bei Anyanwu. Butler spricht auf diesem Weg Fragen der Genderidentität, der ethnischen Zugehörigkeit oder des Feminismus an, ohne einen theoretischen Diskurs darüber zu führen. Sie bleibt sehr ruhig und konzentriert bei den konkreten Erfahrungen der beiden.

Doros mörderische Form des Fortbestehens führt dabei zwangsläufig zu Konflikten. Anyanwu verurteilt Doro, wehrt sich dagegen, dass er sie ebenfalls in seine Zuchtpläne einbezieht, flieht vor ihm. In drei Büchern, über mehrere Jahrhundert hinweg, geht Butler diese Konstellation stets aufs Neue an, es ist eine Art zyklisches Erzählen, das Zuspitzungen kennt, die meiste Zeit aber bei einem aufmerksam zurückgenommenen Rhythmus bleibt.

Octavia Butler: „Wilde Saat“. Aus dem Amerikanischen von Will Platten. Heyne Verlag, München 2021, 480 Seiten, 9,99 Euro

Doros Zuchtprojekt schließlich nutzt Butler dazu, Themen wie Sklaverei und Kolonialismus aus anderer Perspektive anzugehen. Denn Doro agiert wie ein Sklavenhändler, verschifft seine „Leute“ in die USA. Einschließlich Anyanwu. Bloß unter umgekehrten Vorzeichen: Er will keine Sklaven für die weiße Bevölkerung heranzüchten, sondern versammelt die wegen ihrer Andersartigkeit Marginalisierten in eigenen Kolonien. Wie er es zuvor lange Zeit in Afrika getan hat.

Dass die Vorgehensweise Doros moralisch mehr als bedenklich ist, bildet Butler als eine der Konstanten im Verhältnis von Anyanwu und Doro ab. Die Ambivalenz, mit der sie das tut, mag beim Lesen irritieren. Sie gehört zu den Stärken dieses wie für diese Zeiten geschriebenen Buchs.

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