Thüringen mit Rot-Rot-Grün plus Schwarz: Suche nach Beständigkeit

In Thüringen endet der Stabilitätspakt zwischen Minderheitsregierung und Opposition, aber Neuwahlen gibt es nicht. Was nun?

Bodo Ramelow und Susanne Hennig-Wellsow im Thüringer Landtag

Bodo Ramelow und Susanne Hennig-Wellsow bei der Wahl zum Ministerpräsidenten am 4. März 2020 Foto: Steve Bauerschmidt/imago

DRESDEN taz | Beim Jour fixe der Thüringer Landespressekonferenz lässt der SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Hey eingepacktes Konfekt unter den Journalisten herumgehen. „Weil es im Landtag ja auch so knistert …“ Nach überstandenem Bundestagswahlkampf drängen in der Tat die ungelösten Fragen der künftigen Regierbarkeit des Bundeslandes wieder in den Vordergrund. Von der gescheiterten Kandidatur des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen für die CDU in Südthüringen redet schon niemand mehr.

Ursprünglich sollte parallel zur Bundestagswahl am 26. September auch der Erfurter Landtag vorzeitig neu gewählt werden. Einen Antrag zur Selbstauflösung des Landesparlaments aber zogen Linke und Grüne im Juli zurück, nachdem vier CDU-Abgeordnete der nötigen Zweidrittelmehrheit ihre Stimme verweigerten. Einige ältere Abgeordnete fürchten angesichts der schlechten CDU-Umfragewerte um ein erneutes Mandat. Nur etwa die Hälfte der 21 CDU-Abgeordneten soll nach Insider­informationen eine Neuwahl befürworten.

Nach den Ergebnissen der Bundestagswahl ist bei Linken und bei der Union die Neigung weiter geschwunden, Thüringer Wähler noch einmal nach klareren Mehrheitsverhältnissen zu befragen. Nun muss sich die rot-rot-grüne Minderheitsregierung auf ein langfristiges Arrangement mit der Opposition bis 2024 einstellen.

Demokratietheoretisch mag dieses in einem deutschen Bundesland einmalige Experiment einer Koalition ohne eigene Mehrheit für den Zuschauer ja ganz interessant sein, lächelt ebenjener Matthias Hey. „Als Protagonisten in diesem Politiklabor aber werden wir viele Nerven lassen. Das wird eine der härtesten Legislaturen, die wir je erlebt haben“, fügt er in einem Anflug von Sarkasmus hinzu. Im Oktober 2019 hatte die zuvor fünf Jahre regierende Koalition von Linken, SPD und Grünen bei der Landtagswahl ihre knappe Mehrheit verloren. Das Erstarken der AfD und die Unmöglichkeit einer Koalitionsbildung ohne sie führten zu einer Lähmung des Landtages.

Ein einmaliges Experiment

Spektakulärer Höhepunkt war am 5. Februar 2020 die Wahl von FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit Hilfe der AfD. CDU und FDP durchschauten das Täuschungsmanöver der AfD nicht, ihren Scheinkandidaten im dritten Wahlgang fallen zu lassen und geschlossen für Kemmerich zu stimmen. Dem bislang amtierenden Linken Bodo Ramelow fehlte eine Stimme, erst vier Wochen später wurde er nach dem kläglichen Abgang Kemmerichs erneut zum Ministerpräsidenten gewählt. Rot-Rot-Grün und die CDU vereinbarten daraufhin einen sogenannten Stabilitätsmechanismus.

Diese Konstellation stellte ebenfalls einen in der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte bislang einmaligen Zwitter dar, weder eine Tolerierung von Rot-Rot-Grün durch die CDU noch eine stille Koalition. Formal wahrte die Union ihr Gesicht. Ihre sach- und projektbezogene Konzessionsbereitschaft aber ermöglichte unter anderem die Verabschiedung eines Haushaltes für das laufende Jahr. Die Absage an jegliches Zusammengehen mit der AfD schloss zugleich eine Wiederholung des Eklats vom Februar 2020 aus.

Bei unveränderten Mehrheitsverhältnissen steht Thüringen aktuell vor den gleichen Problemen wie im Vorjahr. Das Kabinett hat den Haushaltsentwurf 2022 verabschiedet, in dieser Woche wird er dem Landtag zugeleitet. Der Stabilitätsmechanismus aber ist formal ausgelaufen. Fühlt sich die CDU zu neuerlicher punktueller Zusammenarbeit verpflichtet, nachdem ihre Fraktion mangels Geschlossenheit die Zweidrittelmehrheit zur Selbstauf­lösung des Landtages verhinderte?

„Wir sind zuerst unseren Wählern und der eigenen Überzeugung verpflichtet“, gibt sich der Fraktionsvorsitzende Mario Voigt etwas verschnupft. Thüringen doch aber auch? „Wir wollen Thüringen stabil halten, aber wir sind keine Mehrheitsbeschaffer, sondern Opposition“, stellt Voigt die Seiltänzer-Rolle der Union noch einmal klar. Auszubalancieren gilt es auch die uneinige Fraktion mit ihren verschiedenen Gefolgschaften. Voigts Aussage „Ich sehe derzeit keine Zweidrittelmehrheit für eine Landtagsauflösung“ klingt auch deshalb nur folgerichtig.

Gespräche ja, aber keine förmliche Vereinbarung

Sein Kollege Steffen Dittes von der Linken stellt zunächst einmal klar, dass im Juli niemand die Neuwahlen formal abgesagt habe. Nach der Weigerung von Teilen der CDU-Fraktion wollten auch zwei Linken-Abgeordnete die fehlenden Stimmen nicht bei den vier verbliebenen FDP-Abgeordneten oder der aus der FDP ausgeschiedenen Ute Bergner suchen. Und eine Zweidrittelmehrheit mit Hilfe von AfD-Stimmen wollte erst recht niemand riskieren.

Kommt nun ein neuer Stabilitätspakt oder wird die verbleibenden drei Jahre täglich um neue Mehrheiten bei Haushalten und Gesetzentwürfen gerungen? Gespräche ja, aber keine förmliche Vereinbarung, lässt sich die Haltung von CDU-Fraktionschef Voigt zusammenfassen. Das ist nicht nur eine nette Geste, sondern das erwartet auch die CDU-Klientel in der Thüringer Wirtschaft und in den Kommunen.

Hinsichtlich einer „Haltelinie zur AfD“ wünschen sich die Linke als stärkste Fraktion und die SPD eine Vereinbarung. „Und wenn es nur eine Seite ist“, sagt Matthias Hey. Nicht nur Steffen Dittes traut der heterogenen CDU-Fraktion nach wie vor zu, zur Durchsetzung eigener Vorhaben mit AfD-Leihstimmen zu drohen, Rot-Rot-Grün also zu erpressen. Mario Voigt wechselt zwar die Perspektive, antwortet im taz-Gespräch aber eindeutig: „Für uns ist vollkommen klar, dass wir keinen Gesetzesinitiativen der AfD zustimmen werden. Die Brandmauer steht!“

Der Linke Dittes sieht Räume und ein „nicht statisches“ interessantes Spielfeld wechselnder Mehrheiten. Warum sollen die der Koalition fehlenden vier Stimmen nicht auch aus der FDP kommen, zumal im Lichte der Berliner Ampel? Man kann auch einen Köder für die Liberalen in dem Bemühen von RRG sehen, den durch den Austritt Ute Bergners unter die Mindestfraktionsstärke gerutschten Liberalen einen soliden Gruppenstatus zu verschaffen. Der war bislang in der Geschäftsordnung nicht geregelt.

Ein Ritt auf der Rasierklinge

Die SPD sieht sich als Vermittler im erwarteten Dauerstreit. Innenminister und Landesvorsitzender Georg Maier spricht von einer Scharnierfunktion, Fraktionschef Hey von der Rolle als Brückenbauer. So werde die Partei auch von CDU und FDP betrachtet. Konfliktpunkte gibt es genug, bevor vielleicht im kommenden Februar der Landeshaushalt verabschiedet werden kann. Die Union bemängelt mangelnde finanzielle Solidität, Defizite bei der Ausstattung der Kommunen, bei Investitionen in Bildung und Mobilität. Matthias Hey fällt sofort der Streit um ein Landesaufnahmeprogramm für Flüchtlinge ein.

Der Thüringer Landespolitik steht also ein Ritt auf der Rasierklinge bevor. „Das bedeutet, dass sich alle mehr zusammenreißen müssen“, mahnt Mario Voigt für die CDU an und fordert RRG auf, mehr konsensfähige Vorschläge zu machen. Zugleich müssen die Parteien aber auch auf ihre Profilierung achten – falls denn doch bei gegenseitiger Blockade vorzeitig neu gewählt werden muss.

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