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Über die Politik von Drag„Travestie persifliert Reichtum“

Ein Gespräch mit dem Autor und Aktivisten Baffolo Meus über Drag und Arbeiterkinder, Travestie und Klasse, Kritik und Genuss.

Jacky-Oh Weinhaus (links) und Baffolo Meus Foto: linski.me
Interview von Daniel Moersener

taz: Baffolo Meus, Sie stellen Ihrem Essay „Schminken mit Tschechow“ einen Eintrag aus dem Brockhaus Konversationslexikon von 1841 voran, der lautet: „Travestie nennt man ein scherzhaftes Gedicht, welchem immer ein ernstes Gedicht zugrunde liegt.“ Es handelt sich also um eine Kunstform, die auf heiligen Ernst und Gravitas verzichtet, dennoch und deswegen aber ein ernstes politisches Anliegen verfolgt.

Baffolo Meus: Die Mittel und Werkzeuge der Travestie sind Leichtigkeit und Flattern. Mit ihnen lässt sich öffentliche Aufmerksamkeit erhaschen und wie im Falle unseres Vereins Travestie für Deutschland subkutan unsere Botschaft und unsere Utopie unter das Volk bringen.

Die Homosexuelle Aktion Westberlin, die 1977 das SchwuZ mitbegründete, heute der älteste und größte queere Club Deutschlands, organisierte 1973 das legendäre Tunten-Pfingstreffen. Sie setzte sich damit bewusst von einem Teil der Schwulenbewegung ab, der in den bundesrepublikanischen Normalzustand diffundieren wollte. Die HAW wollte nicht nur frei von Homophobie leben, sondern positionierte sich auch antikapitalistisch. Sind Unstimmigkeiten über das Mischverhältnis von Politik und Party ein altes Problem der Linken und emanzipatorischen Bewegungen?

Im Interview: Baffolo Meus

Der Autor* und politische Aktivist* Baffolo Meus (Jahrgang 1978), ostdeutsches Arbeiterkind, gründete 2004 den Filmzirkel Friedrichshain und koordiniert seit 2017 die „Travestie für Deutschland“ mit. Er war 2021 Mitorganisator* der ersten CSD Berlin Pride seit Pandemiezeiten.

In dieser Hinsicht hat sich von 1973 über 1983 bis ins Jahr 2021 nicht viel verändert. Politisches Bewusstsein und ein hedonistischer Lebensstil stehen aber nicht in Widerspruch, das hat die HAW-Tunten auch gewiss ausgemacht. Denen ging es sowohl um Kapitalismuskritik als auch um Genuss und Befreiung vom Patriarchat. Der Hedonismus ist insofern politisch, als dass er die Forderung vertritt, es müsse doch mehr geben als nur ein 0815-Leben in der Dominanzgesellschaft: Er schafft gleichermaßen Werte und Glück. Der Tuntenstreit über das Verhältnis von Integration und Konfrontation ist meines Erachtens aber nie definitiv entschieden worden und muss es gewissermaßen auch nicht.

Warum nicht?

Man kann sich mit seiner besseren Hälfte sowohl am Wochenende in die Datsche im Speckgürtel Berlins zurückziehen und sich an anderen Tagen politisch engagieren. Zum Verhältnis von marxistischer Bewegung und Genuss hat Rio Reiser als linker Schwuler gesagt: Die Linken hier, die stinken mir. Ewige Plenardiskussionen hatten mit seinem Lebensgefühl nichts zu tun. Ich sehe das ähnlich, wir versuchen, der Heteromatrix lustvoll etwas entgegenzusetzen.

Das Buch

Baffolo Meus: „Schminken mit Tschechow“. Querverlag, 64 S., 8 Euro

Das Klassenbewusstsein, das Travestie und Drag zu eigen ist, beschreiben Sie in Ihrem Essay. Sie selbst kommen aus einer ostdeutschen Arbeiterfamilie und vergleichen die Drags einerseits mit „Sansculotten“, revolutionären Arbeiterinnen und Kleinbürgerinnen zu Zeiten der Französischen Revolution, andererseits sehen Sie bei ihnen eine Faszination für den Lebensstil der „jeunesse dorée“, also reicher Bürgerkinder.

Die Drags, die ich kenne, haben keinen großbürgerlichen Background. Sie brechen in der Travestie mit den bieder-bescheidenen Glücksvorstellungen ihrer Klasse und eifern der sogenannten „jeunesse dorée“ nach. Selbstverständlich ohne über die Mittel oder die Sicherheiten der oberen Klassen zu verfügen. Dabei wird eine Lebensrealität in den Wunschfokus gerückt, der man selber nicht angehört. Das äußert sich in extravaganten Kleidern, großen Schulterpolstern, auftrumpfenden Frisuren und jeder Menge Plastik-Geschmeide. Man eifert diesem Lebensstandard der oberen Klassen nach, aber das geschieht nie ohne Spott, da wird gerne nach oben getreten. Dieser Humor ist basales Element der Travestie und gar nicht von ihr zu trennen.

Vorbilder der ästhetischen Grenzüberschreitung und des Spiels mit Verwandlungen, auf die Sie Bezug nehmen, sind unter anderem: Marilyn Monroe, David Bowie, Rainer Werner Fassbinder und Lou Reed. Welche Art von Genealogie verbindet diese Namen, wer folgt ihnen heute nach?

Diese zum Teil auch hetero- und bisexuellen Ikonen haben eine queere Lesbarkeit kommuniziert und es mir in meiner Jugend leichter gemacht. Das klingt banal, aber ist es keinesfalls, da wurde etwas in mir bewegt. Wie es in der kürzlich uraufgeführten „Operette für zwei schwule Tenöre“ heißt: „Ein Liebeslied von Mann zu Mann hätt' mir als kleiner Junge gut getan“. Heute ist Lil Nas X ein großer Popstar und kann hoffentlich Ähnliches für eine neue Generation Jugendlicher leisten. Damals musste man auf die oben genannten Künst­le­r*in­nen zurückgreifen, genauso wie die vorige Generation auf Marlene Dietrich und Bette Davis, generell gerne auf Hollywooddiven der Dreißiger und Vierziger zurückgegriffen hat. Seit den Siebzigern und Achtzigern, als queere Popstars verstärkt in den Medien sichtbar wurden, hat sich die Welt weitergedreht. Eine zwanzigjährige Drag im heutigen Berlin wird sich vielleicht weniger Madonna als Vorbild nehmen, sondern eher Ariana Grande oder Lizzo.

Die Utopie, die in der Travestie als Kunstform aufscheint, beschreiben Sie im Essay mit Anton Tschechow wie folgt: „Es gibt kein Glück ohne Müßiggang, nur das Nutzlose bereitet Vergnügen“. Das ist eine radikale Absage an den permanenten Verwertungszwang des kapitalistischen Alltags.

Kein Mann schminkt sich rote Lippen und keine Frau malt sich einen Bart an, um damit große ökonomische Zwecke zu erreichen, man tut sich selbst und dem Umfeld was Gutes. Das freigesetzte Glück macht die Welt momenthaft zu einem besseren Ort. Vergleichbar ist das Bild einer schnurrenden Katze, die sich am Ofen zusammenrollt. Ein Haus ohne Ofenkatze kann eben nur ein Haus, aber niemals ein Heim sein. Und diese Funktion erfüllt Travestie, die oberste Disziplin der Nutzlosigkeit. Großartige Gesangsstimmen oder wirtschaftlich erfolgreiche Performer findest du bei Dragshows kaum. Es geht darum, für einen Moment Kohlenstaub in Goldpartikel zu verwandeln.

Steht diese Utopie im Widerspruch zu aktuellen Formen der Identitätspolitik?

Travestie ist das Gegenteil von Identität. Die identitätspolitischen Diskurse dieser Zeit sind erst mal zu begrüßen, und dennoch: Das Loswerden von Identität sollte nicht mit Identitätsfragen bemüht werden. Ein Begriff, um den die Travestie aber nicht herumkommt und der mir nach wie vor sehr wichtig ist, ist eben der Klassenbegriff. Travestie persifliert Reichtum, problematisiert ihn aber nicht, sondern verteilt ihn ästhetisch um. Sie eröffnet einen Sinn dafür, dass Eigentumsverhältnisse und Machtverhältnisse doch anders sein könnten, zumindest für eine Nacht.

Sie sind im Vorstand der Travestie für Deutschland, eines Vereins, der in Berlin politische Arbeit leistet. Worum geht es?

Unsere Galionsfigur Jacky-Oh Weinhaus hat 2016 die TfD ins Leben gerufen, um dem gesellschaftlichen Rechtsruck der letzten Jahre etwas entgegenzusetzen. Sie sammelte ihre Drag-Freundinnen und Verbündete um sich – das Medienecho war enorm und reichte bis zur BBC und New York Times. Volker Beck, den wir wegen seines Kampfes gegen Homophobie und Antisemitismus für einen ganz Großen halten, war der erste Politiker, der sich mit uns getroffen hat. Anfangs waren die Treffen formlos, später haben wir auch Panels veranstaltet und schließlich politische Instanzen wie das Justiz- und Gesundheitsministerium direkt angesprochen. Wir haben uns für die Gründung des ersten lesbischen Seniorinnenheims in Europa eingesetzt und erfolgreich das Verbot der „Homoheilung“ in Deutschland vorangetrieben. Mittlerweile haben wir die TfD als Verein etabliert und machen in Kooperation mit Bezirksämtern und Berliner Senat gezielte Antidiskriminierungsarbeit in Schulen.

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