Scholz im Wahlkampf: Das neue Herz der SPD

In Wolfsburg applaudieren VW-Betriebsräte Olaf Scholz. Der bekennt, dass er nicht gekifft hat. Beobachtungen zu einem nüchternen Kandidaten.

Olaf Scholz bei einem Wahlkampftermin in einem Hallenbad in Wolfsburg

Olaf Scholz im Hallenbad am Dienstag in Wolfsburg Foto: Julian Stratenschulte/dpa

WOLFSBURG taz | Am Dienstagmorgen steht Olaf Scholz vor einem 5-Meter-Sprungturm und erinnert sich an seine Kindheit. Chloriges Wasser, ein fensterloses Hallenbad, schwitzige Atmosphäre. Da hat er als Kind den Frei- und Fahrtenschwimmer gemacht. Er verzieht den Mund. Keine gute Erinnerung.

Das Hallenbad in Wolfsburg wirkt hingegen luftig und elegant. Die Wände sind aus Glas. Früher war es ein Schwimmbad, jetzt ist es ein Kulturzentrum. Beides sind Leuchttürme sozialdemokratischer Kommunalpolitik. Eine gelungene Transformation. So, wie sie bei der Autoindustrie gelingen muss.

Neben Scholz steht im grauen Anzug Daniela Cavallo (51), Gesamtbetriebsratsvorsitzende von VW. Es geht um den Wandel der Arbeitswelt, ein klassisches SPD-Thema. Aber es ist ja akut. Das VW-Motorenwerk in Salzgitter wird 2028 schließen. Der Staat muss Bedingungen für die Transformation der Autoindustrie schaffen, sagt Cavallo. Und verhindern, dass bei dem Wechsel zu E-Autos die Fabriken in Niedriglohnländer verlagert werden. Das, sagt Cavallo, könnten die Grünen nicht, das könne nur die SPD. Cavallos Vater war Arbeitsmigrant aus Italien. Dass sie Chefin des wohl einflussreichsten Betriebsrates in Deutschland ist, ist ein Zeichen.

Für Scholz ist der Termin ein Heimspiel. „Transformation ist ein Wort, das vielen Magenschmerzen macht“, sagt er. Und er ist der Arzt, der weiß, was hilft. Es geht. Das ist der Refrain seiner Rede. Und: Keiner muss Angst vor der Zukunft haben.

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Und für VW stimmt das. In Wolfsburg fließen 800 Millionen Euro in ein neues Forschungszentrum des Konzerns. Das Motorenwerk in Salzgitter wird zwar dichtgemacht, aber dafür wird dort eines von sechs gigantischen VW-Batteriewerken entstehen. Batterien machen in der neuen E-Autowelt ein Drittel der Wertschöpfung aus. Und: Bei VW gibt es eine Beschäftigungsgarantie bis 2029. Wenn der Umbau zur E-Mobilität hier nicht funktioniert, dann wohl nirgends in Deutschland.

Scholz gibt nicht den Betriebsrat der Nation, sondern den technokratischen Macher des klimaneutralen Kapitalismus, der Genehmigungsverfahren für Windparks verkürzen wird und dafür sorgt, dass wir „2.000 Ladepunkte pro Woche errichten, nicht nur 1.000 im Monat.“ Das Wichtigste sei es, „die industrielle Stärke Deutschlands zu verteidigen“ und die globale Konkurrenz auf Distanz zu halten. Das klingt bei Merkel auch nicht anders.

Der Staat müsse gar nicht so viel Geld für den Industrie-Umbau locker machen. Geld hätten die Konzerne selbst genug. Also nicht zu viel Staat. Obwohl Scholz für Mindestlohn und etwas höhere Steuern für Reiche wirbt – im Kern ist er ein SPD-Rechter geblieben. Das Wort Öffentlicher Nahverkehr fällt in den zwei Stunden im Wolfsburger Hallenbad nicht.

Ein grauhaariger IGBCE-Gewerkschafter mit Lederjacke pocht auf den Kohleausstieg 2038. Die SPD müsse verlässlich sein, fordert er, und nicht wie Söder oder die Grünen einen früheren Ausstieg aus der Kohle herbeireden. „Dem stimme ich zu“, sagt Scholz. Um dann darauf hinzuweisen, dass 2038 ja das Enddatum sei und man in der Lausitz und anderswo auch früher auf erneuerbare Energien umstellen kann. So bleibt der Vizekanzler beim Kohlekompromiss und löst sich von ihm. Ein merkelhaftes Manöver.

IG Metall, SPD und VW-Betriebsrat sind in Wolfsburg ein vitaler, eng verwobener sozialer Kosmos. Im Ruhrgebiet, einstige Herzkammer der SPD, ist dieses Milieu ausgefranst, hier nicht. Die SPD ist mit Verwaltungen, Staat und organisierter Zivilgesellschaft vernetzt. Vielleicht ist die etwas langweilig wirkende Angestellten-SPD in Niedersachsen das neue Herz der Partei.

Scholz bleibt Scholz

Nach der Veranstaltung eilt Scholz die Treppe hoch. Er ist zufrieden mit der VW-Gewerkschaftswelt. „Die Modernisierung wird gewollt“, sagt er. „Das ist anders als früher“.

Im Frühjahr 2017 ließ sich Martin Schulz von 700 Betriebsräten bejubeln. Schulz, damals noch SPD-Star, kündigte wolkig einen Abschied von der Agenda 2010 an. Ein Konzept gab es allerdings nicht. Der Eindruck war: Die SPD verspricht mehr, als sie halten kann. Das Sozialstaatskonzept, ein Wort, bei dem SPD-Linke und Seeheimer heute verträumt nicken, kam erst später. Bei Scholz 2021 ist das anders. Runder. Er wird, so hat er es verkündet, keine Regierung führen ohne 12 Euro Mindestlohn. Versprechen und Pläne scheinen zusammenzupassen wie SPD und IG Metall in Wolfsburg.

Am Dienstagmittag stehen rund 200 Leute vor der Backstein-Sparkasse in Lehrte. Viele RentnerInnen, viele Jüngere. Ein paar SPD-Fahnen werden geschwenkt. Aber das Euphorielevel ist übersichtlich. Erstaunlich eigentlich. Die SPD schaute ja lange in den Abgrund. Jetzt, fünf Tage vor der Wahl, hat sie alle Chancen. Doch die Erwartungen sind gedämpft. Vielleicht, weil seit Schröder auf jeden Überschwang immer ein jäher Absturz folgte.

Scholz ist ein Kandidat für verhaltene Stimmungen. Applaus brandet auf, wenn er von 12 Euro Mindestlohn und sicheren Renten spricht. „Niemand soll sich für etwas Besseres halten“, sagt Olaf Scholz. Er sagt es. Er brüllt es nicht. Er verstellt sich nicht wie Frank-Walter Steinmeier, dem er vom Typ her ähnelt und der 2009 als Kanzlerkandidat das Marktschreierische von Schröder imitierte. Scholz bleibt er selbst. Ein bisschen sperrig. Eher leise. Argumentativ.

Raucht Scholz Zigarillos auf Lunge?

Eigentlich sprach vor ein paar Monaten nicht viel für die SPD. Ihr Konzept erschien widersprüchlich. Die ewige Regierungspartei SPD musste neu und schwungvoll wirken und nicht nur wie ein redlicher Sachbearbeiter. Und das mit Olaf Scholz, der eisern die Agenda 2010 verteidigt hatte und seit einer gefühlten Ewigkeit zur politischen Klasse gehört? Es schien ein Aufbruch mit angezogener Handbremse zu werden.

Doch genau diese Mixtur von Kontinuität und etwas Veränderung passt derzeit zur Stimmung. Die WählerInnen sind nach Pandemie und angesichts von Digitalisierung und dem Umbau der Industrie veränderungsmüde. Scholzʼ Botschaft, er werde die Änderungen schon managen, passt da. Natürlich hilft es auch, dass er nicht Armin Laschet ist.

Das Publikum darf in Lehrte Fragen auf Bierdeckel schreiben. Lieblingsbier? „Im Wahlkampf auf jeden Fall alkoholfrei“, so Scholzʼ stocknüchterne Antwort. Raucht er Zigarillos auf Lunge? Das ist eine Anspielung auf Laschets verunglücktes Kinder-TV-Interview. „Ich rauche nicht und habe auch nicht gekifft“, so die drogenfreie Antwort. Wie schaffst Du es, Dich zu konzentrieren? „Das gehört zum Beruf.“

Er ist sachlich, trocken. Ein Mann, der selten Ich sagt und lieber auf seinen Beruf verweist. Merkel hat das Ich in ihren Reden fast verbannt. Sie erschien damit als neutrale Sachwalterin des Amtes. Und schwer angreifbar. Scholz wählt oft ähnliche Passivformeln wie die Kanzlerin, die ungelenk klingen, aber wasserdicht sind.

Warum, möchte jemand wissen, wollen Sie eigentlich Bundeskanzler werden? Scholz schildert in mäandernden Sätzen die wichtigen Aufgaben, die das Amt mit sich bringt. Und sagt dann, kurze Pause, mit selbstbewusstem Grinsen: „Ich habe das Gefühl: Ich kann das.“

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