Tanzen und Stolpern gegen die Uhr

Schlaue neue Elektronikalben von Moor Mother aus den USA und Loraine James aus Großbritannien zeigen, wie tief sich Künstlerinnen in den Sound des elektronischen Dancefloor hineinfuchsen

Die nord­amerikanische Musikerin und Dichterin Moor Mother Foto: UV Lucas

Von Christian Werthschulte

No more master clock!“ – „Nie wieder nach der Uhr der Herren!“ Irgendwann inmitten einer Lärmkaskade auf ihrem neuen Album „Black Encyclopedia of the Air“ schreit die US-amerikanische Dichterin und Musikerin Moor Mother, bürgerlich Camae Defstar, diesen Slogan ins Mikrofon. Es ist die ultimative Ermächtigungsgeste. Kon­trolle über die Zeit zu besitzen, das ist eine klassische Forderung emanzipatorischer Bewegungen. Die Revolutionäre der Pariser Commune schossen 1871 angeblich auf die Turm­uhren, ein Jahrhundert später traten die überwiegend Schwarzen Ford-Arbeiter:innen in Lordstown im US-Bundesstaat Ohio in den Streik wegen der Taktung des Fließbands.

Für Moor Mother, die ihr Alter nicht nennt, ist der Kampf um die Zeit der Mittelpunkt eines philosophischen Programms. „Black Quantum Futurism“ nennt Moor Mother diese Philosophie, die sie gemeinsam mit ihrer Partnerin, der Community-Anwältin Rasheedah Phillips, entwickelt hat. Unter Rückgriff auf Quantenphysik und afrikanischen Mythen und Philosophien über Zeit formulieren die beiden die Theorie eines „Black Quantum Futurism Creative“. Anstelle das Objekt einer linearen Zeit zu sein, die messbar und befristet ist, wird sie oder er zum Subjekt einer zyklischen Zeit, in der die Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben sind.

Aber „Master Clock“ hat noch eine zweite Bedeutung. Der Titel spielt auch den unerbittlichen Tempomat eines elektronischen Aufnahmestudios an, nach dessen Geschwindigkeit sich der Rest der Musikinstrumente zu richten hat. Moor Mother umgeht dessen Takt, indem sie und ihre unzähligen Mit­mu­si­ke­r:in­nen sich immer wieder der kollektiven Improvisation hingeben. „My purpose, my collective work“, singt sie auf „Shekere“, während im Hintergrund eine improvisierte Violine gegen den Takt eines schleppenden HipHop-Beats läuft.

Auf „Encyclopedia of the Air“ wird ein knappes Jahrhundert Schwarzer Musikgeschichte in einer Art Zeitfalte komprimiert. Die deepen R&B-Beats der Soulquarian-Ära treffen auf die zerhackten Drumpatterns von Jungle, und all das wird versöhnt durch Flöten und Vibrafone als Signaturinstrumente des Spiritual Jazz. Mittendrin beschwört Moor Mother immer wieder „Ancestors“, die Vorfahren: Mu­si­ke­r:in­nen wie Sun Ra, der nach Stationen in Chicago und New York ab den 1970ern in ihrer Heimatstadt Philadelphia eine lange Tradition improvisierter Musik begründet hat; aber auch die eigene Familie. Ihr verstorbener Vater hat der Künstlerin die frühesten Erinnerungen an Musik mitgegeben; Erinnerungen an den Südstaaten-Soulsänger Sam Cooke, der den Rassismus der 1960er Jahre in den hoffnungsvollsten Protestsong der Bürgerrechtsbewegung überführte: „A change is gonna come.“

Denn auch Moor Mother macht Protestmusik, aber keine, die sich im Wiederkäuen von Slogans erschöpft. Mit ihrer Musik wolle sie Schwarze Traumata durcharbeiten, ohne sich vom Gewicht der eigenen Leidensgeschichte niederringen zu lassen, hat sie in einem Interview zu „Black Encyclopedia of the Air“ erzählt. Auf ihrem Stück „Race Function Limited“ schildern Moor Mother und der britische Rapper Brother May all die Zumutungen, denen Schwarze aufgrund ihrer Hautfarbe ausgesetzt sind.

In diesem düsteren Songtext werden Schwarze als Kanonenfutter im Irakkrieg verheizt, wohnen in heruntergekommenen Sozialwohnungen und werden durch willkürliche Polizeikontrollen schikaniert. Moor Mother kontrastieren Alltagserfahrungen von Rassismus mit Ermächtigungsgesten des Schwarzen Dancefloors: den präzise gesetzten Stolperkickdrums von Footwork und einem Sample von „The Ha Dance“, einem House-Klassiker der queeren Ballroomszene New Yorks. Es sind historische Momente von Trost, in denen aufscheint, was möglich sein könnte.

Wo Moor Mother mit ihrer Musik die Grenzen der Zeitwahrnehmung zu transzendieren versucht, rennt die britische Künstlerin Loraine James mit ihrem Album „Reflection“ gegen diese Grenzen an. Die Elektronik-Produzentin lebt in London, wo die Sehnsucht nach einer Fantasieversion der imperialen Vergangenheit die ernsthafte Beschäftigung mit der Gegenwart längst verdrängt hat. Die Diskussionen um die Statuen von ehemaligen Sklavenbesitzern im öffentlichen Raum, die Strohmann-Debatten um „Critical Race Theory“ im britischen Unterhaus – sie alle sind Ausdruck einer „postkolonialen Melancholie“ (Paul Gilroy), die den Blick auf die interkulturelle Realität verstellt.

Historische Momente von Trost, in denen aufscheint, was möglich sein könnte

Loraine James reagiert darauf mit sehnsuchtsvollen Pianoakkorden. Immer wieder umtänzeln sie auf ihrem Track „We’re building some­thing new“ einen digitalen Beat, der mit Tempiwechseln immer wieder dem offensichtlichen Groove ausweicht: „Tear down the statues“ rappt Iceboy Violet dazu in einer leicht androgynen Tonlage, bevor er beklagt, seine, die Schwarze Geschichte Großbritanniens, nicht in der Schule gelernt zu haben.

Sie habe zuletzt viel Frustration über den Zustand der britischen Gesellschaft verspürt, hat Loraine James diesen Sommer in einem Interview erklärt. „Simple things“ – einfache Dinge – hat sie einen Track genannt, der als Reaktion auf die Tötung von George Floyd entstanden ist. Einfache Dinge sind für James: die Straße heruntergehen, ohne von der Polizei kontrolliert zu werden, weil man Schwarz ist. Denn die britische Gegenwartsvermeidung führt immer wieder dazu, dass Komplexität von Identität brutal auf körperliche Merkmale reduziert wird.

Die Musik von Loraine James verspricht eine bessere Gegenwart: Eine, in der es möglich ist, als queere Schwarze Frau eine Vorliebe für weiße Nerdmusik wie Ambient und Emo zu pflegen. Dies zeigt sich in jedem ihrer verfrickelten Beats, deren Swing sich immer dann ausbildet, wenn sie sich nicht wiederholen. Und sie zeigt sich in den Songtexten von Loraine James, die immer wieder das Gefühl des Nicht-Identischen beschreiben: von den Selbstzweifeln an den eigenen Fähigkeiten bis zum Eingeständnis der Charaktereigenschaften, die man an sich selbst nicht mag. Tanzen kann man zu „Reflection“ nur etwas holprig. Mit der Musik über den bedauernswerten Zustand der britische Gegenwart nachdenken aber umso besser.

Moor Mother: „Black Encyclopedia of the Air“ (Anti/Indigo)

Loraine James: „Reflection“ (Hyper­dub/Cargo)